Die aus Uruguay stammende Pianistin Dinorah Varsi (1939-2013) saß schon mit vier Jahren auf dem Konzertpodium. Zwei Jahre später spielte sie dem Dirigenten Erich Kleiber vor, der ihr eine große Zukunft voraussagte. Als Wunderkind begeisterte sie das Publikum in ihrem Heimatland und in Brasilien. In ihren frühen Zwanzigern debütierte sie in den USA und auch in Europa. Richtig bekannt wurde sie aber erst 1967, als sie im schweizerischen Vevey den Clara-Haskil-Wettbewerb gewann. Sie wurde schnell zu einer herausragenden Künstlerpersönlichkeit mit einem breiten Repertoire vom Barock bis zur Moderne.
Das Label Genuin veröffentlicht nun eine ‘Legacy’-Box mit 35 CDs sowie 5 DVDs mit Konzertmitschnitten, Filmportraits, einem Meisterkurs und Interviews. Die CDs sind aufgeteilt in zum größten Teil unveröffentlichte Konzertmitschnitte und Studioaufnahmen. Ein 112 Seiten umfassendes Begleitbuch mit Originalbeiträgen und zahlreichen Fotos ergänzt die Edition, die beeindruckend zeigt, welch eine eigenwillige Pianistin Dinorah Varsi war. Tracklist als PDF hier.
Ein Kennzeichen ihrer Interpretationen ist die kondensierte Kraft des Spiels, sei es durch Virtuosität oder bohrende Akzentuierung (etwa im Trauermarsch der 2. Chopin-Sonate). Man könnte in den meisten Fällen, und gerade bei ihrem sehr individualistischen Chopin, endlos über interpretatorische Ideen und vor allem über die nicht immer ersichtliche Kohärenz derselben diskutieren, aber gerade das macht diese Aufnahmen so spannend. Und spannend ist es, die eigenen, oft sehr unterschiedlichen Interpretationen zu analysieren, etwa das Scherzo der 2. Chopin-Sonate, das im 1993 im Studio 6 Minuten, im Konzert von 1986 acht Minuten dauert.
Phänomenal sind ihre Eigenwilligkeit und ihre Dramatisierung der Chopin-Etüden, während sie den Balladen vieles an Differenzierung schuldig bleibt. Ihr Schubert ist stellenweise sehr lyrisch, an anderen Stellen aber harsch und überakzentuiert. Auch mit den etwas schweren Schumann-Aufnahmen werde ich nicht glücklich.
Unter den frühen Aufnahmen aus Montevideo beeindruckt eine elektrisierende Interpretation des 2. Klavierkonzerts von Sergei Rachmaninov (das ebenfalls sehr spannend in der Studioaufnahme aus Rotterdam ist) während keines der in der Box enthaltenen Beethoven-Konzerte wirklich wichtig ist. Dafür begeistert die glasklare, völlig unpathetische Lesart des Ersten Tchaikovsky-Konzerts, die vom Klavierpart her, unter die Aufnahmen mit den meisten hörbar gemachten Noten zu zählen ist.
Das Erste Chopin-Konzert ist durchdrungen von einem soghaften Musikstrom: es fließt wie eine Brahms-Symphonie. Apropos Brahms: in beiden Konzerten, deren Interpretationen an und für sich nichts Außergewöhnliches darstellen, markiert Dinorah Varsi vor allem Präsenz. Sie lässt sich in diesen symphonischen Konzerten nie vom Orchester ‘unterkriegen’.
Hörenswert sind auch die vom RSO Stuttgart unter Jiri Starek fieberhaft gespielten ‘Noches en los jardines de Espana’ von Manuel de Falla. Nicht weniger erregt ist in den Ecksätzen das G-Dur-Konzert von Maurice Ravel, mit einem wunderbar entspannten Mittelsatz. Varsi wird hier vom WDR-Orchester unter Zdenek Macal begleitet.
Interessant sind die in der Box enthaltene DVD mit einer Meisterklasse aus Karlsruhe sowie die Interviews. Beeindruckend ist auch das großformatige Booklet der opulenten Edition, die ausgiebig Gelegenheit gibt, sich mit den vielen Facetten von Dinorah Varsis Künstlerpersönlichkeit auseinanderzusetzen.