Es ist ein unwahrscheinlich schwieriges Unterfangen für einen Pianisten, bei einem Riesenwerk wie dem Wohltemperierten Klavier von J.S. Bach mit seiner Gesamtdauer von über 5 Stunden den Gesamtüberblick zu behalten und das zweiteilige Werk in einer geschlossenen Interpretation vorzulegen. Dina Ugorskaja hat Bachs WTK innerhalb von zwei Monaten eingespielt und sich dabei gar nicht erst der Gefahr einer geradlinigen Interpretation ausgesetzt. Vielmehr geht sie relativ offen und frei an das Werk heran, wechselt gerne die Agogik, spielt mit der Dynamik und den Farben, so dass uns diese Aufnahme teilweise wie eine Patchwork-Interpretation erscheint. Wobei Patchwork als durchaus positiv zu bewerten ist, denn die Interpretation öffnet sich und somit auch dem Hörer immer wieder neue Türen und Perspektiven.
Mal klingen die insgesamt 48 Präludien und Fugen nach dem Stile Wanda Landowskas, mal nach der transzendentalen Interpretation einer Tatjana Nikolayeva, mal nach der Klarheit eines Andras Schiff oder der Virtuosität eines Glenn Gould. Dabei kopiert Dina Ugorskaja aber nie, sondern will einfach zeigen, dass Bachs WTK keinem Stil wirklich unterworfen ist. So behält der Interpret immer die Freiheit, die jeweiligen Präludien und Fugen aus ihrem Gesamtkonzept zu lösen und als eigenständige, kleine Zellen zu betrachten. Und in diesem Sinne mach Ugorskajas Sichtweise wirklich Sinn, denn sie erweitert das Blickfeld auf einen der größten musikalischen Schätze der Menschheit. Spieltechnisch ist die Pianistin natürlich hervorragend.