1868 wurden die Zürcher Tonhalle Gesellschaft und das Tonhalle-Orchester gegründet. Zu dessen 150-jährigem Bestehen ist bei Sony Classical eine Box mit 14 CDs erschienen, die die Aufnahmegeschichte des Orchesters dokumentiert.
Alle Aufnahmen dieser 14 CD-Box sind live in der Zürcher Tonhalle entstanden, die früheste im Jahre 1942. Am Pult stand damals für Bruckners Siebte Symphonie der damalige Chefdirigent Volkmar Andreae, der das Orchester sehr lange, von 1906 bis 1949 leitete. Die Aufnahme ist klanglich gut erhalten und zeigt beeindruckend Andreaes Kunst, Bruckners Musik spannungsvoll mit großem Bogen zu dirigieren.
Unter der Leitung von Othmar Schoeck wurde 1943 Schumanns Vierte Symphonie aufgezeichnet. Die Aufnahme ist etwas dumpf und nicht besonders gut ausbalanciert. Schoeck dirigiert mit großromantischer Geste.
Die vierte Symphonie des Basler Komponisten Albert Moeschinger (1897-1985) ist eines der vielen modernen und nicht unbedingt sehr bekannten Werke in der Box, die aber gerade dadurch an Interesse gewinnt. Die Vierte ist ein dramatisches, durch kräftige Rhythmik charakteristisches Werk mit viel Klangopulenz. Die Aufnahme entstand 1958 unter der Leitung von Hans Rosbaud.
Der Schweizer Komponist und Dirigent Erich Schmid (1907-2000), ein Schüler von Arnold Schönberg, war Chefdirigent des Tonhalle Orchesters von 1949 bis 1957. Er dirigiert hier eine alerte und dynamische Aufnahme der 3. Symphonie von Franz Schubert (1959).
Auf der 3. CD stehen sich eine gewichtige und hoch dramatische Interpretation von Beethovens Schicksalssymphonie und eine nach den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis gestaltete Erste unter Frans Brüggen gegenüber.
Busonis mächtiges Klavierkonzert op. 39 ist mit dem Singkreis der Engadiner Kantorei, dem Kammerchor des Seminars Küsnacht und dem Pianisten Boris Bloch unter der Leitung von Christoph Eschenbach zu hören. Eschenbach hat dieses kolossale Opus oft im Konzert dirigiert und kam damit sehr gut zurecht. Die Aufnahme war zuvor bei Aperto veröffentlicht worden.
Othmar Schoecks ‘Penthesilea’ wird von Gerd Albrecht (Chefdirigent von 1975 bis 1980) dirigiert (mit Helga Dernesch in der Titelrolle), Urs Ringgers ‘Nachhall’ von Hiroshi Wakasugi.
Heinz Holliger leitet sein eigenes Violinkonzert, eine Hommage an Louis Soutter (1871-1942), einen exzentrischen Musiker und Maler, der Holliger mit seinen hoch expressiven, apokalyptischen Visionen inspirierte. Der Solist Thomas Zehetmair ist der Widmungsträger des Konzerts, der mit einer stupenden Selbstverständlichkeit die spieltechnischen Schwierigkeiten dieser Musik überspielt. Eine grandiose und packende Aufnahme!
19 Jahre war der Amerikaner David Zinman Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters. Er ist in dieser Box mit einer sehr farbigen und transparenten Interpretation der ‘Sinfonia Domestica’ von Richard Strauss vertreten. Die Aufnahme von 1991, die vormals schon bei Arte Nova verlegt wurde, zeichnet sich durch eine detailreiche und sensible Gestaltung und exzellente solistische Leistungen aus.
Wieso aus Zinmans Mahler-Zyklus die Auferstehungssymphonie ausgewählt wurde, ist nicht ganz nachzuvollziehen, denn die Fünfte wäre eine eindeutig bessere Wahl gewesen.
Mahlers Zweite wirkt in dieser Aufnahme sehr gezügelt, um nicht zu sagen banal.
Sie wird zwar sehr gepflegt gespielt, mit genau geplanten Steigerungen, im Konzept bis ins letzte Detail durchdacht, dennoch aber recht unpersönlich und zu sehr ‘mainstream’, um in der Konkurrenz auf einen der vorderen Plätze zu kommen. Juliane Banse und Anna Larsson bleiben in dem Ganzen recht blass, und dem Schweizer Kammerchor fehlt es eindeutig an Durchschlagskraft.
Bruckners Symphonie Nr. 5 wurde 2009 unter Leitung von Bernard Haitink aufgenommen. Es eine wohl strukturierte, sachliche, klanglich sehr gute, aber keinesfalls herausragende Interpretation.
Sehr rhetorisch und lebendig dirigiert Jonathan Nott Haydns 44. Symphonie, die sogenannte ‘Trauersymphonie’.
Für Dvoraks ‘Neue Welt’-Symphonie stand 2002 Lorin Maazel vor dem Orchester. Die Aufnahme unterscheidet sich kaum von der DG-Produktion mit den Wiener Philharmonikern: dramatisch-ausdrucksstark, im Detail oft manieriert bis zum Gehtnichtmehr, aber dennoch eigentlich sehr spannend.
Die für mich beste Einspielung der ganzen Box ist die Interpretation von Bruckners Neunter Symphonie unter Herbert Blomstedt. Es ist eine großartige Einspielung, ungemein intensiv und packend.
Im Gegensatz zu andern Unternehmen der Klassikindustrie hat das Tonhalle-Orchester Charles Dutoit nicht wegen seiner Sexaffären ins Archiv verbannt. Er darf hier die Orgel-Symphonie von Saint-Saëns dirigieren, und er tut es mit viel Kraft und Raffinement.
Eine kühl-feine, elegante Aufnahme der 5. Symphonie von Jean Sibelius realisierte Esa-Pekka Salonen 2015.
Mit dem Nachfolger von David Zinman, dem Franzosen Lionel Bringuier war das Orchester nicht wirklich zufrieden, und daher wurde er nach nur reiner Vertragszeit durch Paavo Järvi ersetzt. In der Jubiläumsbox ist er mit einer zwar schön transparenten, aber recht spannungsarmen und eigentlich belanglosen Aufnahme der ‘Symphonie fantastique’ von Hector Berlioz vertreten.
Eine in allen Hinsichten gelungene Aufführung von Feldmans ‘Coptic Light’ unter Pierre André Valade, eine schillernde Interpretation von
Lutoslawskis ‘Livre pour orchestre’ unter Sylvain Cambreling und der Mitschnitt von Dieter Ammanns Orchesterstück ‘glut’ sind auf der letzten CD zu hören. Es handelt es sich dabei um ein Auftragswerk der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und von Konzert-Theater Bern. Das Stück wurde für ein riesiges Orchester geschrieben und klingt entsprechend opulent. Der Sound ist also die eine ‘Glut’, während der
Werktitel sich auch auf das englische Wort ‘glut’ (Überfülle) bezieht. Manchmal geht es richtig tumultuös zu, aber es gibt auch ruhige Passagen in diesem zugänglichen Opus, dessen Klangfantasie begeistert. Markus Stenz ist ein umsichtiger Sachverwalter dieser Partitur.