Wo beginnen, wenn man eine Box mit 62 CDs und 8 DVDs vor sich liegen hat, die gesamten Aufnahmen des Alban Berg Quartetts, entstanden zwischen 1974 und 2003, also mit den Gründungsmitgliedern Günter Pichler, Violine, und Valentin Erben, Cello, aber auch mit den Geigern Klaus Maetzl und Gerhard Schulz sowie Hatto Beyerle und Thomas Kakuska, Viola. Die nach Kakuskas Tod 2005 zum Quartett gestoßene Isabel Charisius ist also nicht dabei. Das 1970 gegründete Quartett hat 2008 seine Tätigkeit eingestellt.
Wo also beginnen? Nun, ganz klar bei dem Komponisten, von dem das ABQ seinen Namen hat, Alban Berg und der auch logischerweise auf der ersten CD figuriert, mit dem Streichquartett op. 3 und der Lyrischen Suite.
Die Berg-Interpretationen des Berg Quartetts sind phänomenal. Wer die Musiker kennt, weiß, dass sie das Opus 3 von Alban Berg nicht, wie andere Quartette, in der Postromantik ansiedeln konnten, sondern es als Aufbruch in die Moderne konzipieren mussten. Die Geste bleibt knapp, mehr der Musik verhaftet als der Dramatik. Das Quartett ist kühl in der Expressivität, brillant im gestochen scharfen Sound. Die vier Monate später aufgenommene Lyrische Suite ist klanglich nicht so sehr geschärft. Die Interpretation ist verspielter, beseelter, was ja auch dem Charakter des Werkes entspricht. Spieltechnisch sind beide Aufnahmen von höchstem Niveau.
Kommen wir dann zu Haydn, in dessen Quartetten das ABQ sich einmal mehr als überaus souverän gestaltendes Ensemble zeigt, dessen kontrastreiches, durchhörbares, aufregend artikuliertes und stets spannungsvolles Spiel gerade in den klassischen Quartetten m.E. regelrechte Wunder bewirkt. Das ist keine authentische Interpretation, sondern zu dem Zeitpunkt der Aufnahme eine Aufbereitung Haydns für das zu Ende gehende XX. Jahrhundert. Balance. Nuancierung, Farbgebung und pure Spielfreude faszinieren genauso wie die Klarheit der Rhetorik und die Intelligenz der Gestaltung.
Die Raffinesse der schnellen Sätze und die Sensibilität der langsamen Sätze sind kaum zu übertreffen. Und während sie Haydn ‘leibhaftig’ präsentieren, lässt das ABQ keinen Zweifel an ihrer Wertschätzung für diesen großen Mann aufkommen. Ohne jegliches Pathos stellten sie ihn auf ein Podest.
Auch die Mozart-Einspielungen sind vortrefflich, selbst wenn es Aufnahmen einzelner Quartette gibt, die einem besser gefallen können. Hier aber ergeben der technische Feinschliff, die packende Energie und die dynamische Kontraste spannende Interpretationen.
Die 16 Beethoven-Streichquartette hat das ABQ zweimal auf CD und einmal auf Video aufgenommen. Die Interpretationen zwischen den Studioproduktionen und den Liveaufnahmen sind bei allen Unterschieden dennoch wie aus einem Guss, ungemein raffiniert, dramatisch, geistig durchdrungen und tiefschürfend in der Auslegung.
Die Schubert-Quartette mit dem Alban Berg Quartett sind interessant, obwohl sie nicht zu den Spitzeneinspielungen gerechnet werden können. Das ABQ musiziert mit der Ernsthaftigkeit, die man von ihm gewohnt ist. Schubert wird aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts gesehen und als direkter Vorgänger der Zweiten Wiener Schule in Szene gesetzt. Die kühne Hartnäckigkeit, mit der die Musiker Schubert gegen den Strich kämmen, fördert die substantielle Auseinandersetzung sowohl in Form wie auch im Ausdruck, aber wer es lieber konventionell-romantisch mag, der wird hier nicht gut bedient.
Ganz anders der ABQ-Mendelssohn. « Es kommt nur gar zu viel auf die Ausführung an », schrieb Mendelssohn 1832 an den Vater, der Kritik an seinem Opus 13 geübt hatte. Wäre es Vater Mendelssohn gegönnt gewesen, diese Aufnahme des Alban Berg Quartetts zu hören, er hätte nie auch nur das Geringste gegen das Stück gesagt.
Wie selten kommt es vor, dass man bei einer CD in den ersten 20 Sekunden fest gepackt wird und einen die Musik dann nicht mehr loslässt. Bei dieser Produktion ist das so. Die wunderbare Verwandlung des Klangs in Musik bereits in den ersten Takten, die Gewalt des Espressivo, der Schwung der ständig schwebend gehaltenen Musik, die im Sinn dieser Kompositionen so richtigen Akzentuierungen, das fortwährende Relancieren der Musik, wie glücklich macht es uns, weil hier eine musikantische Unmittelbarkeit vorherrscht, die jeden Ton als Bestandteil des Melos am richtigen Ort erscheinen lässt, wo ein urgesunder musikalischer Sinn zusammen mit gestalterischer Intelligenz Mendelssohns Notenmaterial so hörbar macht, dass es wirklich zu leben und zu sprechen beginnt. Möglicherweise haben die ABQ’s Mendelssohn beredeter gemacht als der Komponist sich selber sah, er, für den Kammermusik nicht zu der ernsten Musik zählte.
Die beiden Dvorak-Quartette spielt das Alban Berg Quartett mit überschäumender Energie. Zum musikantischen Charakter der Interpretationen kommen eine sagenhafte Transparenz, eine Ausgewogenheit und eine Beherrschung der Färbungstechnik, die das Alban Berg Quartett weit über die immer größer werdende Schar an exzellenten Quartetten hinaushebt. In meiner Rezension zur Veröffentlichung der CD schrieb ich etwas, was ich vielleicht heute so nicht mehr sagen würde. Doch 2001 war es sicherlich nicht falsch: « Gott ist Gott, und die schönsten Engel sind eben nur Engel. » Unbestreitbar ist, dass Poesie, Lyrik, bezauberndes Dialogieren und rauschhafte Tanzwirbel Dvoraks Musik die Herzlichkeit geben, aus der sie ihre Kraft hat.
Kraftvoll und zupackend, mit äußerstem Klangempfinden, so präsentiert das Alban Berg Quartett das Dvorak-Quintett (mit Philippe Entremont am Klavier). Hier ist so ziemlich alles an Farbe und Dynamik vorhanden, was in diesem Opus einen Musikgenuss allerersten Ranges garantiert. Etwas betulicher und im Ausdruck weniger offenherzig ist Schumanns Quintett. Auch aufnahmetechnisch ist das Schumann-Werk (live in der Carnegie aufgenommen) weniger ausgewogen, weniger räumlich. Störende Geräusche beeinträchtigen das Hören. Die in Wien ebenfalls live aufgezeichneten Janacek-Quartette sind klanglich eher enttäuschend. Der Klang der Aufnahme ist scharf, sehr direkt und wenig räumlich. Nun läuft dies alles der Berg-Interpretation nicht unbedingt zuwider, die gewollt modern und scharf ist, aber es verstärkt das Interpretationskonzept in einem Masse, dass der Hörkomfort beeinträchtigt ist. Das leidenschaftliche, intensive und hochexpressive Spiel der Alban-Berg-Musiker sorgt trotz allem für eine interessante Begegnung mit Janaceks beiden Meisterwerken.
Das Klarinettenquintett op. 115 und das Streichquintett op. 11 von Johannes Brahms hat das Alban Berg Quartett mit der Klarinettistin Sabine Meyer und dem Bratscher Hariolf Schlichtig aufgenommen.
Das Klarinettenquintett erklingt in einer quasi orchestralen, ideal verschmolzenen, ungemein inspirierten Version. Das Streichquintett hingegen klingt unnatürlich, zu extrovertiert, um musikalisch wahr zu sein. Dennoch ist die Intensität des Spiels an sich faszinierend und ermöglicht es, diese Interpretation mit Interesse zu verfolgen.
Einige weitere Aufnahmen aus der Jubiläumsbox seien noch herausgehoben, darunter Mozarts 12. Klavierkonzert in der Fassung für Streichquartett und Klavier sowie das Klavierquartett KV 403. Partner am Klavier ist Alfred Brendel.
Im Konzert spielt Brendel sehr solistisch, so als habe er mit einem Orchester zu tun, während im Quartett die kammermusikalische Dimension perfekt realisiert wird.
Eine aparte CD ist jene mit Walzermusik von Joseph Lanner, Joseph Strauss in Bearbeitungen von Webern, Berg, Schönberg und Weinmann. Das ist ein ganz besonderer Leckerbissen. In Quartett-Besetzung oder im Quintett, Sextett oder Septett musizieren die Alban-Berg-Streicher und ihre Partner absolut hinreißend, mit viel Augenzwinkern und Klangphantasie. Ein vollendeter Kunstgenuss!
Alban Berg Quartett und Tangomusik, das sind zwei Begriffe, die nicht so richtig zusammen passen wollen. Es verwundert daher nicht, dass die ABQ-Musiker für ihr Programm mit dem Bandoneonisten Per Arne Glorvigen Stücke gewählt haben, die mehr sind als Tangomusik, die von einem kunstsinnigen und die Grenzen sprengenden Komponieren geprägt sind. Piazzollas Tango Sensations und Tristezas sind Werke, in denen sich der Argentinier besonders anspruchsvoll geben wollte. Auch Adieu Satie des Österreichers Kurt Schwertsik ist eine sehr hintergründige Komposition, die die ganze Gestaltungskraft und Intelligenz der ABQ und ihres Bandoneon-Partners herausfordert, um zu klingen und zu wirken.
Ein Tango-Programm auf der höheren Schiene also, Kammermusik der besonderen Art!
Natürlich fehlen in der ABQ-Box auch die zahlreichen Einspielungen mit zeitgenössischer Musik nicht, darunter die besonders gelungenen Interpretationen von Schnittkes Streichquartett Nr. 4, dem Lutoslawski-Streichquartett, demjenigen von Rihm und – herausragend – Berios Quartetto III (Notturno).
Warner kann also mit dieser Box nicht nur eine Hommage an das Alban Berg Quartett realisieren, sondern eine der umfassendsten Präsentationen von Quartettmusik vorlegen.
Bitte lesen Sie auch unser Interview mit Günter Pichler
The complete recordings of the Alban Berg Quartet are a unique chamber music treasure with the most important compositions in this genre, played in the clear and modern approach which was characteristic for this quartet. Except Shostakovich, every important composer from Haydn to Berio and Rihm is represented.
Please read also our interview with Günter Pichler.
* Beethoven: Streichquartette Nr. 1-16 + Große Fuge op. 133 (in zwei Einspielungen)
* Mozart: Streichquartette Nr. 14-23 (Nr. 14-18, 20-23 in zwei Einspielungen + Nr. 19 in drei Einspielungen) + Streichquintette Nr. 2-4 + Klavierkonzert Nr. 12 A-Dur KV 414 (Fassung für Klavierquintett)
* Haydn: Streichquartette Nr. 39, 74-82 (Nr. 77 in zwei Einspielungen)
* Hoffstetter: Streichquartett Serenade H. 3: 17 (Haydn zugeschrieben)
* Schubert: Streichquartette Nr. 9, 10, 12-15 (Nr. 13-15 in zwei Einspielungen) + Streichquintett D. 956 + Klavierquintett D. 667 Forellenquintett
* Brahms: Streichquartette Nr. 1-3 (in zwei Einspielungen) + Streichquintett op. 111 + Streichsextette Nr. 1 & 2 (Nr. 1 in zwei Einspielungen) + Klavierquintett op. 34 + Klarinettenquintett op. 115
* Dvorak: Streichquartette Nr. 10, 12-14 + Klavierquintett op. 81
* Mendelssohn: Streichquartette Nr. 1 & 2
* Schumann: Klavierquintett op. 44
* Janacek: Streichquartette Nr. 1 Kreutzer-Sonate & Nr. 2 Intime Briefe
* Smetana: Streichquartett Nr. 1 Aus meinem Leben
* Bartok: Streichquartette Nr. 1-6
* Debussy: Streichquartett g-moll op. 10
* Ravel: Streichquartett F-Dur
* Stravinsky: 3 Stücke für Streichquartett; Concertino für Streichquartett; Doppelkanon für Streichquartett « In Memoriam Raoul Dufy »
* Berg: Streichquartett op. 3 (in zwei Einspielungen); Lyrische Suite (in zwei Einspielungen)
* Schnittke: Streichquartett Nr. 4
* Lutoslawski: Streichquartett
* Rihm: Streichquartett Nr. 4
* Webern: Streichquartett op. 28; 5 Sätze für Streichquartett op. 5; Bagatellen für Streichquartett op. 9
* Haubenstock-Ramati: Streichquartette Nr. 1 « Mobile » & Nr. 2 « In Memoriam Christl Zimmerl »
* Einem: Streichquartett Nr. 1 op. 45
* Urbanner: Streichquartette Nr. 3 & 4
* Berio: Quartetto III « Notturno »
* Lanner: Marien-Walzer op. 143; Die Werber op. 103
* J. Strauss I: Wiener-Gemüths-Walzer op. 116; Annen-Polka op. 137; Eisele- und Beisele-Sprünge op. 202
* J. Strauss II: Schatz-Walzer op. 418; Wein, Weib und Gesang op. 333; Kaiser-Walzer op. 437
* Piazzolla: Tango Sensations
* Schwertsik: Adieu Satie op. 86 für Streichquartett & Bandoneon
* Arolas: El Marne
* Cobian / Piazzolla: Mi Refugio
* Piazzolla / Indris: Tristezas de un doble AA
* DVD 1-6: Beethoven: Streichquartette Nr. 1-16 + Große Fuge op. 133 (Mitschnitte aus dem Wiener Konzerthaus 1989)
* DVD 7: Schubert: Streichquartett Nr. 14 « Der Tod und das Mädchen + Bruno Monsaingeon-Dokumentation über das Alban Berg Quartett
* DVD 8: Alban Berg Quartett in St. Petersburg 1991 – Mozart: Streichquartett Nr. 15 + Berg: Streichquartett Nr. 3 + Brahms: Streichquartett Nr. 2