Die Musikwelt feiert in diesem Jahr den 100. Todesstag von Alexander Scriabin. Als er am 27. April 1915 in Moskau starb, verließ er diese Welt als ein Komponist, der sich philosophisch festgelegt und seine Mission als Prophet und Magier unter den Musikern erkannt hatte. Scriabin identifizierte sich mit Nietzsches Übermenschen und wollte durch Ekstase eine Verbindung mit dem Kosmos erreichen und dem göttlichen Schöpfer nahekommen. Auf diese Weise wollte er für alle Künstler eine Art Idealbild sein, er wollte ihnen zeigen, was sie tun können. So war denn auch seine Forderung « Die Welt soll so sein, wie ich es will » keineswegs egoistisch gemeint.
Alexander Scriabin stammte aus einer alten russischen Militärfamilie. Seine Mutter, selbst eine ausgezeichnete Pianistin, gab ihm ersten Klavierunterricht. Mit 10 Jahren schon wurde er am Moskauer Konservatorium ausgebildet. Seine Lehrer waren Arensky und Tanejew. Letzterer war einer der besten Schüler von Tchaikovsky, den Scriabin jedoch verachtete weil er der Meinung war, Tchaikovsky habe es sich beim Komponieren zu leicht gemacht. Interessant ist es zu vermerken, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts Tchaikovsky ein weit weniger wichtiger Komponist war als Scriabin.
1898 lehrte der wohl am wenigsten russische unter den russischen Komponisten am Moskauer Konservatorium. Ab 1903 jedoch widmete er sich ganz der Komposition. Scriabin konnte aus der typisch russischen Musik nichts mehr herausholen. Darum reiste er ins Ausland, um neue Eindrücke zu gewinnen. Er liess sich von einer ersten Frau scheiden und heirate Tatiana de Schloezer. Neben Brüssel, wo er von 1908 bis 1911 lebte, besuchte er Paris, Berlin, London, die Schweiz und Italien. In Amerika, wo jederzeit die Komponisten, die etwas mit Romantik zu tun hatten, groß geschrieben wurden, hatte man von einem gewissen Scriabin gehört, und man zögerte nicht, ihn einzuladen. Er kam jedoch schnellstens wieder zurück, und ließ sich definitiv in seinem Heimatland nieder, wo er am 27. April 1915 starb. Sein Werk allerdings lebte weiter… bis es von Stalin verboten wurde. Gott sei Dank gab es von diesem zweiten Tod ein Wiederauferstehen.
Scriabins Schaffen zeugt von schrankenloser Phantasie, in der sich Mystik, Magie und verzehrende Ekstase mit einer für ihn typischen Traumhaftigkeit mischen. Er wollte das Tonmaterial entmaterialisieren und, nachdem er im Anschluss an westeuropäische Tradition bis zur Atonalität vorgedrungen war, durch eine zugespitzte Übersteigerung aller ihm zur Verfügung stehenden Kunstausdrucksmittel das Gesamtkunstwerk erreichen. Er ließ ein Farbenlichtklavier bauen, das je nach Intensität und Art des Tones Farbeffekte auf eine Leinwand projizierte. Somit gelang es ihm, die Musik aus dem Klanglichen herauszuheben.
Rein musikalisch ist sein Werk, auf eine einfache Formel gebracht, eine Art Bindeglied zwischen Wagner und Schönberg.
Einigermaßen bekannt waren jederzeit seine Klavierwerke, die er anfangs noch unter dem Einfluss von Chopin und Liszt schrieb. Neben seinen unzähligen Etüden, Préludes etc., haben seine zehn Sonaten eine gewisse Beliebtheit errungen. In ihnen findet man mehr als etwa nur Rausch, Spuk und die häufig gerühmte ‘kristalline Kühle’.
Unter Scriabins anderen Werken ist neben dem ‘Poème de l’extase’ die Tondichtung ‘Prometheus’ besonders bekannt geworden. Der Komponist selbst deutete an, dass das Klavier in diesem Werk den Menschen symbolisieren sollte, das Orchester den Kosmos und der Chor die Rufe aus der Urtiefe des Menschen.
« Er könnte verrückt sein », meinte Rimsky-Korsakov. Warum? Wegen des ‘Poème de l’extase’? Sicherlich nicht! Es ist übrigens sehr schwierig, diese Tondichtung zu erleben, wenn man keinen Anhaltspunkt hat. Assoziationen sind sehr individuell und nicht unbedingt vergleichbar mit denen von Scriabin. Wer versucht, das Werk zu deuten, kommt je nach Stimmung immer wieder zu anderen Programmen. Und das scheint die Hypothese einer Ekstase zu bestätigen: das ewig Unkontrollierte, das Durcheinander der Gefühle und Gedanken. Scriabin selbst sagte einmal von der Ekstase: « L’extase n’est pas un sentiment particulier, c’est la délivrance, l’illumination de tous les sentiments, de tous les désirs, les pensées et les sensations: leur danse. » (Die Ekstase ist kein bestimmtes Gefühl, es ist die Befreiung, die Beleuchtung aller Gefühle, aller Wünsche, Gedanken und Empfindungen: ihr Tanz!)
Noch immer wissen viele Musikfreunde nicht so richtig, was sie mit Scriabin anfangen sollen, der, wie ein Musikschriftsteller sagte, früher Provokation war und heute ein Stück unbewältigter Vergangenheit. » Noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde Scriabin von den meisten Musikhistorikern für zweitrangig oder für ‘tot’ gehalten, wenn er ihnen überhaupt einer Erwähnung wert war?’ Der britische Dirigent Sir Adrian Boult bezeichnete sein Werk als « böse Musik ».
Heute, da viele Musikliebhaber in dem gängigen Repertoire den Sättigungspunkt erreicht haben, greifen sie schon mal gerne zu Unbekanntem. Ob ihre Beschäftigung mit Scriabins Musik zufriedenstellend verläuft, hängt wesentlich davon ab, ob sie bereit und fähig sind, sie nicht nur zu hören, sondern wirklich zu erleben.