Aus der Stille: ein interessanter Titel für eine CD. Denn Musik hat zumindest akustisch eher wenig mit Stille zu tun. Aus welchem Grund haben Sie diesen CD-Titel gewählt?
(lacht) Nun… Musik kommt aus der Stille und geht in die Stille. Stille ist nicht nur Abwesenheit von Klang, sondern ein aktives Element, das die Struktur, die Ästhetik und Emotion der Musik beeinflussen kann. Stille erzeugt Spannungsmomente, die beim Publikum ein Gefühl der Erwartung erzeugen kann.
Ursprünglich hatte ich die Begriffe ‘Wandlung, Stille und Übergänge’ bei der Konzeption des Albums im Kopf. Die drei Begriffe sind hier miteinander verknüpft. Wandlungen erfordern häufig Phasen der Stille. Übergänge können als Wandlungsprozess betrachtet werden, die sowohl Stille als auch äußere Aktivität erfordern können. Da alle ausgesuchten Stücke auf diese Art miteinander verbunden sind, und die Stille eine zentrale Rolle spielt, ist so der Titel entstanden.
Sie gelten als exzellente Bach-Interpretin. Schaut man Ihre Diskografie an, gibt es keine Einspielung, bei der Johann Sebastian Bach nicht eine zentrale Rolle spielt. Und auch auf Ihrer neuen CD mischt er wieder mit. Was fasziniert Sie an Bach? Wie und wann entstand diese (Vor-)Liebe?
Die Liebe zu Bach besteht schon lange. Bei uns zu Hause wurde immer sehr viel Bach gehört und auch viel musiziert. Hauskonzerte gab es auch. Als Jugendliche habe ich dann auch regelmäßig einen Motettenchor besucht, in dem wir große Werke Bachs, wie die h-Moll Messe, Matthäuspassion, natürlich auch Motetten etc. gesungen und auch aufgeführt haben. Nicht zuletzt durch diese frühe Prägung ist die Liebe zu Bachs Musik ständig gewachsen, später dann noch einmal mehr durch meinen großartigen Lehrer Evgeni Koroliov.
Was mich an Bach fasziniert? Genau das, was der ungarische Organist, Dirigent und Bachspezialist Lajos Rovatkay in einem Satz auf den Punkt brachte: « Bei Bach gibt es alles, was vor ihm war, und alles, was nach ihm kommt. Bei ihm kommt alles zusammen. »
Bachs Werk ist göttlich und zugleich menschlich. Es gibt viele Ebenen in seiner Musik, strukturelle, mathematische, symbolische und spirituelle, die mich faszinieren.
Aber in erster Linie fühle ich mich tief berührt von der Wahrhaftigkeit, Demut und Uneitelkeit seiner Musik. Diese Tugenden sind in unserer Zeit sehr rar und bieten vielleicht eine Art der Zuflucht.
Außer Bachs Sinfonia Nr. 11 in g-moll haben Sie auch zwei Bach-Transkriptionen ausgewählt: Ferrucio Busonis Bearbeitung von Bachs Choralvorspiel ‘Ich ruf zu Dir’ und August Stradals Transkription des zweiten Satzes aus der Orgelsonate Nr. 4. Inwieweit passen diese beiden Bearbeitungen zum Thema ihrer CD?
Ich denke, sie passen ganz wunderbar. Das Choralvorspiel ‚Ich ruf zu Dir‘ habe ich gewählt, da sich das darauffolgende Stück Orchela Prelude von Rouzbeh Rafie darauf bezieht und man nach mehrmaligem Hören, auch die Melodie des Chorals erkennt.
Den zweiten Satz der Orgelsonate von Bach in der Stradal-Bearbeitung, habe ich gewählt, da er nach der Komposition von György Kurtág durch seine Struktur und Schönheit den Geist klärt, und man danach wieder offen für Neues ist (lacht).
Der iranisch-stämmige Komponist Rouzbeh Rafie, der auch als Composer in Residence drei Werke für das von Ihnen initiierte Musikfestival Bach & now! geschrieben hat, schlägt auf Ihrer neuen CD mit Orchela Preludiums die Brücke von Bach zur Gegenwart: Wie Busoni wählte er dafür Bachs Choralvorspiel ‘Ich ruf zu Dir’. Er nimmt ihn als Ausgangspunkt und baut seine weitere Komposition darauf auf …
Ja, dies passiert im Tonhaltepedal. Dort liegt zum Ende des Stücks der Choral im Pedal. Er nähert sich dem Werk Bachs auf eine sehr wunderbare und interessante Weise. Rafies Musik hat viele Ebenen, subtile, strukturelle, mystische, die man nur bei häufigem Hören durchdringt. Der iranischen Kultur ist er sehr verbunden, tief in ihr verwurzelt, was sich in seiner Musik widerspiegelt.
Damit wären wir bei Ihrer zweiten Leidenschaft, die sich sowohl bei Ihren CD-Einspielungen als auch bei Ihrem Festival Bach & now! zeigt: moderne und zeitgenössische Musik. Einige Komponisten haben Ihnen sogar Stücke gewidmet bzw. für Sie komponiert. Wie kann man sich das vorstellen: Schreibt der Komponist das Stück und überrascht Sie damit? Oder entsteht so eine Komposition im Dialog zwischen Komponist und Pianist?
Tatsächlich wurde mir bisher meist das ‚fertige‘ Stück präsentiert. Das ist allerdings auch nicht unüblich, da der Komponist seine eigene Genese, Konzeption und Vision hat. Ich bin vorher natürlich sehr gespannt, was mich nach Fertigstellung erwartet. Es bleibt als Interpret immer die Frage, ob man dem Stück gerecht wird, ob man die emotionale Idee des Komponisten trifft, den Gedanken dahinter. Es geht ja nicht um Töne, sondern – wie gesagt – um Visionen.
Doch nun zurück zu ihrem Album und einigen weiteren modernen Werken, die Sie eingespielt haben: In John Taveners sechsteiligem Klavierzyklus Ypakoë geht es um den Osterzyklus der griechisch-orthodoxen Kirche. In den Teilen 3 und 5 stellt er die Pianisten vor eine nicht alltägliche Herausforderung: Die Choralmelodien sind streckenweise ohne Rhythmus notiert. Sie müssen also selbst kreativ werden. Wie gehen sie als Interpretin an solche Passagen heran?
Tatsächlich lasse ich die Musik auf mich wirken. Natürlich schaue ich mir die Hintergründe, die Entstehung der Kompositionen an, den Inhalt, das Leben und den Werdegang des Komponisten, den Menschen dahinter, um ihm und dem Werk näher zu kommen. Danach versuche ich alles ‚loszulassen‘ und mich ‚nackt‘ und unvoreingenommen der Komposition zu nähern. Aber der eigene Geschmack, der eigene Sinn für musikalische Ästhetik, das angeeignete musikalische Wissen helfen natürlich auch bei einer solchen Annäherung.
Außergewöhnlich ist auch das erste Klavierstück aus Federico Mompous Klavierzyklus Música callada. Die Vortragsanweisung lautet ‘piano Angelico’ und die Melodie ist auf einige Töne beschränkt. Welchen Effekt hat das?
Meiner Meinung nach kann man dieses wundervolle Stück mit seinen wenigen Tönen nur ohne Eitelkeit, in totaler Wahrhaftigkeit spielen, und das ist nicht einfach. Es ist eine so ehrliche Musik – wunderschön, reduziert, eben engelgleich.
Die Mystik führt wie ein roter Faden durch Ihr Album. Es geht häufig um religiöse Themen, aber auch um Tierkreiszeichen. Diese haben dem US-amerikanischen Komponisten George Crumb als Inspirationsquelle für seinen Klavierzyklus Makrokosmus I gedient. Das Stück Dream Images, das im Zeichen der Zwillinge steht, hält eine weitere pianistische Herausforderung bereit: ein fünffaches Pianissimo. Wie haben Sie das bei der Aufnahme realisiert?
Ich bin an meine Grenze und auch an die Grenze des Instruments gegangen, eine echte Herausforderung, aber wunderbar. Der Saal, das Instrument und eine gute Klaviertechnik machen das möglich (lacht). Und diese Komposition von Crumb ist einfach fantastisch und einzigartig. Sie lebt vom Subtilen. Diese Subtilität durchzieht viele der ausgesuchten Werke auf diesem Album.
Neben den bekannten und dem weniger bekannten zeitgenössischen Komponisten gibt es einen, der den Hörer in jedem Fall sehr überraschen dürfte: Lyonel Feininger, der als Maler und Grafiker der Klassischen Moderne zu Weltruf kam, dessen musikalische Ambitionen aber kaum bekannt sind. Ein glücklicher Zufall, dass es von ihm eine Komposition gibt, die für ihre CD geeignet ist?
Nun, vielen ist nicht bekannt, dass Feininger ursprünglich Musik studieren sollte, sich dann aber für die bildende Kunst entschied. Im Alter von 50 Jahren entdeckte Feininger erneut seine große Liebe zu Bach, studierte seine Fugen und schrieb später einige Klavierfugen. Da es eine gewisse Assoziation zu Bach gibt, die Fuge gut in das Konzept der CD passt, und darüber hinaus sehr interessant, und so gut wie unbekannt ist, erschien es mir reizvoll, sie mit in das Programm zu nehmen.
Wie im ersten Stück, Wasserklavier von Lucio Berio wurde auch das letzte Werk auf Ihrem Album von der Natur inspiriert: Sakura (Kirschblüte) überschrieb der Japaner Toshio Hosokawa sein Klavierstück aus dem Jahr 2007, in dem er den Lebenszyklus einer Kirschblüte musikalisch beschreibt. Bei der Interpretation geht es nicht nur darum, auf herkömmliche Weise Klavier zu spielen, Sie müssen darüber hinaus hinter den Tasten aktiv werden. Wie?
Dieses kurze Stück ist bezaubernd. Die Melodie liegt dem alten Volkslied Sakura zugrunde. Hosokawa nutzt die tiefen Saiten als Gong (man schlägt mit der Handfläche sanft auf die Saiten) und bei der Sakura-Melodie werden einige Saiten mit dem Finger abgedeckt, die Melodie auf den Tasten gespielt. Dadurch entsteht ein Klang, der an das japanische Instrument Koto erinnert. Und wie beim ersten Stück der CD Wasserklavier, das mit Stille beginnt, schließt auch das letzte Stück Sakura mit Stille. Der Klang des Glöckchens verschwindet im Nichts und damit endet das Album.