Wie ein Wirbelwind war er aus dem fernen Kanada ins Luxemburger Musikleben eingeflogen: Bramwell Toveys erste Woche als Chefdirigent des Luxemburger Philharmonischen Orchesters erinnerte an Rossinis ‘Barbiere’: ‘Tovey qua, Tovey là’. Zwischen Programmkonferenzen, Strategieplanung, Arbeitsessen mit Verwaltungsräten und Gewerkschaftlern wurde eifrig geprobt: zwei Konzerte mit Beethovens Egmont-Ouvertüre, dessen Violinkonzert mit der wundervollen Sarah Chang und der Lemminkainen-Suite von Jean Sibelius waren zu erarbeiten, nebst einem Kammermusikprogramm für die ‘Amis de l’OPL’, bei dem Tovey als Pianist auftrat. In den Proben zeigte sich der Maestro unerbittlich: Höchste Präzision wurde gefordert und auch erlangt, weil die Musiker, wie es einer formulierte, « einfach mit ihm atmen und er alles von uns bekommt, was er verlangt. » Viel Harmonie in der Philharmonie!
Soviel Engagement überträgt sich auch auf den Saal, und das Publikum, welches das Auditorium zweimal bis auf den letzten Platz füllte, war mit Recht ebenso begeistert wie die Kritiker der einheimischen und der internationalen Presse.
Die Zukunft des Orchesters lag Tovey sehr am Herzen, und dazu gehörte auch die Besetzung neuer Posten. Drei Probespiele hatte er zusätzlich zu allen anderen Programmpunkten zu bewältigen: Cello, Kontrabass und ein Himmel voller Harfen… Immerhin war ein Probespiel daran schuld, dass Tovey schon in aller Herrgottsfrühe, um sieben Uhr, mit Sarah Chang in der Villa Louvigny für das Kammermusikkonzert proben musste. Der Wachtposten traute seinen Augen nicht und Sarah durfte sich nicht beschweren, schließlich hatte sie die Sonate von César Franck kurzfristig ins Programm gehoben, ein komplexes Werk, das Tovey, wie er uns verriet, zuvor noch nie gespielt hatte. Doch auch diese Feuerprobe bestand er glanzvoll in Anwesenheit vieler Musikfreunde, darunter I.K.H. Großherzogin Joséphine-Charlotte.
Hier noch das Interview, das Pizzicato damals veröffentlichte. Es ist das Selbstporträt eines Musikers aus Leidenschaft! Die Fragen stellte Remy Franck.
Bramwell Tovey: « Jeder Luxemburger soll auf dieses Orchester stolz werden! »
Bramwell, warum sind Sie Dirigent geworden?
Musik war sehr präsent bei uns in der Familie, mein Vater spielte Klavier, er hatte eine riesige Schallplattensammlung, meine Mutter sang im Chor unserer kleinen Stadt Ilford, die heute Teil Londons ist, meine Großeltern sangen im Chor, jeder machte Musik, und das Dirigieren als Kunstform war mir sehr früh vertraut. Und von Anfang an hat mich die Ego-Seite des Dirigierens, die Aussicht, Macht auszuüben über ein Orchester, über Musiker, sehr wenig interessiert. Aber die Macht über die Musik, die Möglichkeit, Stücke nach meinem Empfinden zu formen, habe ich von Anfang an sehr genossen. Ich wurde Dirigent, weil ich tief in mir die Fähigkeit spürte, Musik zu leiten. Als ich dann an die Royal Academy of Music kam und mich zu den Dirigentenkursen einschrieb, musste ich zusammen mit drei anderen Kandidaten eine Aufnahmeprüfung machen. Ich musste den 1. Satz aus Beethovens Siebter dirigieren. Mitten in diesem Satz kam der Professor mit tief ernstem Gesicht, stoppte die Musik, schüttelte mir die Hand und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. In dem Augenblick war für mich meine Dirigentenkarriere beendet. Am anderen Tag ging ich zu der Tafel, wo die Resultate aushingen. Mein Name stand nicht auf der Liste. Tief enttäuscht ging ich in den Saal, wo mir die anderen entgegen liefen und mich beglückwünschten. Ich fragte sie, was das denn bedeute, und sie sagten, ich würde das erste Jahr überspringen und gleich ins zweite aufgenommen werden. Ich hatte mir selbstverständlich die Namen des zweiten Studienjahrs nicht angesehen, aber die Kollegen hatten Recht: mein Name stand dort! Er stand dort zusammen mit Namen, die heute in der Musikwelt eine gewisse Bedeutung haben, Simon Rattle zum Beispiel, mit dem ich dann zusammen studiert habe. Zu dem Zeitpunkt wusste ich, dass ich Dirigent werden konnte, und zu dem Zeitpunkt war das dann auch mein innigster Berufswunsch.
Aber Sie haben ja nicht nur Dirigieren studiert…
Nein, zuvor hatte ich am der Royal Academy Klavier gelernt, jede Menge an theoretischen Fächern belegt und ich war in der Kompositionsklasse. Und nachdem ich mein Studium beendet hatte, wollte ich noch mehr studieren. Ich wollte aber zunächst eine einjährige Pause einlegen. Doch es ergaben sich so viele Gelegenheiten zu arbeiten, dass daraus nichts wurde. Ich bildete mein eigenes Orchester, machte Einiges für die BBC und dann wurde ich am London Festival Ballet, dem heutigen English National Ballet als Probenpianist und Assistent des Dirigenten engagiert. Drei Jahre lang arbeitete ich mit dem London Festival Ballet und dann wurde ich musikalischer Leiter des Scottish Ballet. Ich war mittlerweile 24, hatte immer noch kein Jahr Pause gemacht und werde es wohl auch nie tun. In Schottland blieb ich ebenfalls drei Jahre. Mit 28 kam ich an das Royal Opera House Covent Garden, wo ich wiederum das Ballett-Orchester leitete. Ich war auch zuständig für das Saddlers Wells Royal Ballet, das Tourneeballett der Royal Opera. Mit diesem Ballett war ich monatelang unterwegs, in Osteuropa, im Fernen Osten, in Nord- und Südamerika, in Australien, und da wir stets die lokalen Orchester benutzten, hatte ich die Chance als ein noch so junger Dirigent diese sehr verschiedenen Orchester rundum den Globus zu dirigieren. Auf der anderen Seite, mit einem solchen Ballett und 35 Ballerinen auf Tournee zu gehen, war schon ein verflixt schwieriger Job. Da ich aber auch eine gewisse Opernerfahrung hatte, bot man mir die Stelle des Generalmusikdirektors der Cape Town Opera in Südafrika an. Als 29-Jähriger gab ich mein Operndebüt mit Puccinis ‘Tosca’. Leonie Rysanek sang die Titelrolle, phänomenal! Mit 60 sang sie noch wie ein junges Mädchen. Ich dirigierte auch andere Opern, Wagner und viele andere Werke, die ich so sehr mag… aber die politische Situation in Südafrika wurde so schwierig, dass ich letztlich den Posten nicht annahm. Und dann kam es 1986 zu diesem Konzert im Barbican Hall, bei dem ich das London Symphony Orchestra dirigierte und einen großen Erfolg hatte. Leonard Bernstein saß im Saal… Das war dann der eigentliche Start meiner Karriere. Das heißt, dass ich in diesem frühen Stadium meiner Arbeit eigentlich den ‘altmodischen’ Weg ging, der aber für einen Dirigenten der beste Weg ist. Nur so kann man aufbauen, nur so kann man lernen. Besonders die Probenarbeit am Klavier ist dabei sehr wertvoll gewesen. Wenn Sie einen Monat lang Petrouchka’aufwärts und abwärts gespielt haben, jede Note kennen, dann haben Sie das Stück intus. Sowas nimmt Ihnen keiner mehr weg.
1987 fiel mir die Aufgabe zu, die D’Oyly Carte Opera neu aufzubauen. Ich wählte die Sänger aus, die Orchestermusiker… Wahnsinn! Ich hatte allein über 1000 Vorsingtermine, aber wir bekamen so ein tolles Orchester, einen superben Chor, lauter junge Leute, die verzweifelt nach Arbeit suchten und hoch motiviert waren. Wir hatten unsere erste Premiere im Mai 1988. Es war ein überwältigender Erfolg! Ich machte das dann anderthalb Jahre lang. Und in dieser Zeit erhielten wir nur eine einzige negative Kritik. Ich schrieb auch das Eine oder Andere für das Fernsehen, gab zahlreiche andere Konzerte, auch als Pianist, ich war ein im besten Sinne eklektischer Musiker. Und dann kam der Ruf nach Winnipeg. Und nach Winnipeg wechselte ich zum Vancouver Symphony Orchestra
Sie haben also Ballettmusik dirigiert, Oper und das symphonische Repertoire. Was mögen Sie denn nun lieber?
Ich liebe Oper und ich dirigiere auch hin und wieder heute noch Opern. Das Schwierige daran ist, dass die Oper so viel Zeit beansprucht. Wenn Sie eine Oper dirigieren, brauchen Sie mindestens fünf oder sechs Wochen dafür. In derselben Zeit kann ich aber mit einem Symphonieorchester 10 verschiedene Programme einstudieren. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich eine Vorliebe fürs symphonische Repertoire.
Gibt es Musik, die Sie wirklich nicht mögen?
Country and Western…und ‘Bilder einer Ausstellung’.…das klingt vielleicht wie ein Sakrileg, aber ich glaube, dass die Ravel-Orchestrierung das Original nicht trifft. Ich habe auch etwas wie ein philosophisches Problem mit dem Brahms-Requiem. Ich habe es dirigiert. Ich mag Brahms sehr. Ich liebe es, Brahms-Symphonien zu dirigieren, seine Klavier- oder Kammermusik zu spielen, aber das Requiem verdaue ich nicht. Ich hatte lange Zeit ein Problem mit Bruckner, heute jedoch liebe ich Bruckner über alles. Ich habe die Barrieren überwunden, vielleicht weil ich älter geworden bin. Es gibt einige Vaughan Williams-Symphonien, die ich nicht mag, zeitgenössische Musik, wenn sie keine Aussage enthält… aber letztlich gibt es nicht schrecklich viel Musik, die ich wirklich nicht mag.
Gibt es ein Werk, das Sie über alles lieben?
Adrian Boult sagte mir einmal: Dein Lieblingsstück soll das sein, das du morgen dirigierst…. Aber ich habe wirklich ein Lieblingswerk, ein Stück, das ich bei weitem bevorzuge, das sind die Enigma Variations von Edward Elgar. Ich habe die Enigma Variations mit dreizehn Jahren kennen gelernt und diese Musik hat mich ganz einfach weggepustet. Es ist Elgars größtes Werk. Es ist eines der größten Werke, die für ein Orchester des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden. Unglaublich! Meistens wird es zu schnell gespielt, meistens auch zu laut. Es gibt in diesem Opus Harmonien, die Sie in den meisten Aufführungen nicht hören. Ich versuche, die richtigen Tempi zu finden, die richtige Balance. Ich werde heute vielerorts mit dem Stück identifiziert und man fragt mich immer wieder, es zu dirigieren. Mein Lieblingswerk Nummer 2 ist Elgars Erste Symphonie.
Ist es für Sie problematisch, dass Sie so lange im Voraus planen müssen? Boult sagte vielleicht sehr richtig, es solle die Musik sein, die Sie morgen spielen, die Sie am meisten mögen, nur können Sie niemals heute entscheiden, was Sie morgen tun. Boult verband also mit seiner Aussage einen Zwang.
Es kommt immer wieder vor – aber nicht zu oft, glücklicherweise! -, dass man sich eine Programmänderung wünscht. Als ich jetzt die Zweite Mahler machen sollte, dachte ich: Mein Gott, jetzt würdest du eigentlich viel lieber die Fünfte machen. Damit muss man dann geistig fertig werden, es gilt, den Geist zu ordnen. Ich weiß auch, dass ich ganz begeistert an die Arbeit gehen werde, wenn es so weit ist. Ich weiß aber auch, dass ich eine Gelegenheit suchen muss, wieder einmal die Fünfte zu machen.
Sie haben vor, in Ihre Programme mit dem Philharmonischen Orchester Luxemburg zeitgenössische Musik einzubringen.
Wir sind Kuratoren der Vergangenheit, aber genauso Kuratoren unserer Zeit. Und es wird gerade heute eine Unmenge an wirklich wundervoller Musik in unglaublich vielen Stilrichtungen geschrieben, dass man daran nicht vorbeigehen darf.
Nun gibt es Dirigenten wie Arturo Tamayo z.B., die doch eine sehr begrenzte Quantität dessen, was heute geschrieben wird, als zeitgenössische Musik anerkennen… Adams und Glass z.B. bereiten Tamayo Probleme.
Ich halte es mit Schopenhauer: Ein Stück ist für mich dann Musik, wenn es darin den Ausdruck des Innenlebens der Welt gibt. So ging es ja: Bach, Haydn, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Brahms… bis hin zu Stockhausen, Berio, Boulez…und in einem gewissen Sinn wurde dann der Punkt erreicht, wo die serielle Musik – die ich mich fasziniert und die ich gerne dirigiere – in eine Kompositionstechnik führte, die berechnend war, auf Glück setzte, auf Probabilität, wo jedoch die Muse, d.h. die innere Inspiration fehlte. Heute ist die Muse wieder zurückgekehrt. Das damit verbundene Kickback gegen die Modernisten hat nicht jeder verkraftet. Es hängt aber damit zusammen, dass die Komponisten von heute das legitime Recht für sich beanspruchen, Musik zu schreiben, die vom Publikum verstanden und gemocht wird. Das ist durchaus nicht ungesund! Und gerade die Vielfalt der zeitgenössischen Musik ist ja so bereichernd. Wer sich in einem Hanslick-ähnlichen Partisanentum auf die eine oder auf die andere Seite schlägt, geht eigentlich am Kern der Sache vorbei.
Ist Musik für Sie eigentlich dieser Weg zum Glück, diese vom Himmel gegebene Wunderwaffe für Frieden und Wohlbefinden?
Ich glaube, dass Musik eine unwahrscheinlich reiche Sprache ist, ein unglaubliches Kommunikationsmittel, welches da anknüpft, wo Worte nicht mehr ausreichen. Musik hilft Gedanken zum Ausdruck zu bringen, die ohne sie nicht auszudrücken wären. Ich glaube, Musik hat die Kraft, das Leben der Menschen zu verbessern, philosophische Verständigung, menschliche Verständigung zu verbessern. Ob es aktiv die Welt verbessern kann, bezweifle ich jedoch, denn das übersteigt die Kraft der Musik ‘per se’…und dennoch spielen die Musiker eine große Rolle in diesem Bereich. Punktuell lässt sich bestimmt so manches erreichen.
Sehen Sie, ich bin sehr an Philosophie interessiert. Ich glaube nicht, dass ich ein religiöser Mensch bin, auch wenn meine Frau in diesem Punkt absolut nicht mit mir einverstanden ist. Musik ist für mich eine Philosophie und eine Sprache, eine Ästhetik auch, ein Kommunikationsmittel, ganz gleich ob es sich um westliche Orchestermusik handelt, um Oper oder um nordamerikanische Eingeborenenmusik. Musik hat eine Kraft und durch diese Kraft eine Funktion in unserer Gesellschaft. Sie hatte früher sogar eine eminent rituelle Funktion. Und sie kann also schon die Welt in einem gewissen Sinn verbessern. Freilich haben wir auch erlebt, wie Musik im Dritten Reich etwa oder in der Stalin-Ära missbraucht wurde und ihre Kraft gegen die Interessen der Mehrheit der Menschen gekehrt wurde. So gesehen, beinhaltet Musik auch eine Gefahr. Was mich aber ein wenig traurig stimmt ist, dass Musik und Kunst generell nicht genügend Menschen erreichen, nicht in ausreichendem Maße das Leben der Menschen beeinflussen. Die Kunst und speziell die in dieser Hinsicht besonders kraftvolle Musik halten uns einen Spiegel vor. Und wir lieben nicht unbedingt, was wir in diesem Spiegel sehen… Damit muss man umgehen können! Die Kinder werden in der Schule erzogen, stundenlang vor dem Computer zu sitzen, eventuell in Mathematik-Prüfungen sehr gut abzuschneiden, unter Umständen mehrere Sprachen zu sprechen, aber sie bleiben sehr arm an humanistischem, an kulturellem Wissen. Und das ist ein Fehler….
Das war eine lange Antwort auf Ihre Frage…
…die ich nun umdrehe: Kann die Welt, können Ereignisse in der Welt die Musik oder die Art, Musik aufzuführen, beeinflussen?
Als Shostakovich starb, hörte ich in Salzburg eine Aufführung des Adagios aus seiner 5. Symphonie unter Leonard Bernstein. Und es besteht für mich kein Zweifel daran, dass die Art und Weise, wie Bernstein dieses Stück an jenem Abend dirigierte, sehr von der Nachricht des Todes beeinflusst wurde. Als eine Musikerin des Orchesters in Winnipeg starb, ließen wir ihren Stuhl auf dem Podium stehen und spielten das Barber-Adagio zur Erinnerung an sie. Auch diese Aufführung wurde in dieser ganz speziellen Atmosphäre zu einem besonderen Ereignis. Als ich Winnipeg als Chefdirigent verließ, nach 12 Jahren, spielten wir Nimrod aus den Enigma Variations. Weil dieser Satz das Thema Freundschaft behandelt und in diesem Fall meine Freundschaft mit der Orchestergemeinschaft, beeinflusste das die Aufführung. Kurz nach dem 11. September 2001 dirigierte ich Beethovens Neunte Symphonie in Vancouver. Die Musiker hatten vorne auf dem Podium eine Kerze aufgestellt und nach der Aufführung blies einer der Musiker diese Kerze aus. Auch diese Aufführung wurde aus einem ganz speziellen Geist heraus gestaltet. Ob eine Interpretation aber dadurch besser wird, dass man sie wegen äußerer Umstände emotionaler bringt, ist eine andere Frage.
Kommen wir zum Philharmonischen Orchester Luxemburg und zu seiner Zukunft. Was muss verändert werden, um dieses Orchester noch weiter zu entwickeln? Ich habe gehört, Sie sollen bei Vorspielen für die Besetzung neuer Posten ganz besonders streng sein.
Ich glaube, ich bin fair. Es gibt ein Niveau, unter das man nicht gehen darf. Sonst können Sie ein Orchester nicht weiter bringen. Wir hatten einige sehr gute Musiker, die vorspielten, auch wenn wir nur einen Musiker zurück behielten, von dem ich annahm, dass er reif war, um in einem Orchester zu spielen. Neue Musiker aufzunehmen ist eine sehr heikle und eminent wichtige Sache. Doch es gibt mehr. Wir werden Tourneen machen, wir werden Aufnahmen machen. Das alles stärkt die Moral des Orchesters und hilft ihm, sich technisch zu verbessern, aber wesentlich scheint mir doch auch das Repertoire zu sein. Wir müssen mehr Haydn und Mozart spielen, denn ohne Haydn und Mozart kann man kein Orchester aufbauen. Haydn und Mozart bilden das Fundament für das gesamte Repertoire. Und auch wenn etliche wirklich große Werke schon lange nicht mehr oder noch nie gespielt wurden, The Planets von Gustav Holst etwa oder Elgars Zweite Symphonie, werden wir prioritär Haydn und Mozart machen. Der Mozart-Stil muss weiter entwickelt werden, unsere Streichergruppen müssen sich verbessern und das sind Sachen, die nur der Chefdirigent in die Hand nehmen kann. Im Hinblick auf die Tourneen, die uns nach China und möglicherweise bald auch in die USA führen werden, muss das Orchester wirklich eine Topqualität bieten. Ich bin sicher, dass uns das gelingen wird, denn es gibt in dieser Formation unglaublich gute Musiker.
Nun wird es ja aber eine weitere Herausforderung geben, nämlich ein breiteres Publikum zu finden, damit eines Tages der neue Saal auch gefüllt werden kann.
Ich bin durch meine Tätigkeit in Nordamerika daran gewöhnt, in Richtung Publikum zu arbeiten, auf vielen verschiedenen Wegen Leute für klassische Musik zu sensibilisieren. Und ich werde alles daran setzen, um auch hier in Luxemburg das Orchester zu neuen Erfolgen zu führen. Dieses Orchester ist eine derart großartige Errungenschaft dieses Landes, ein so wertvolles Gut des Luxemburger Volkes, dass es mein Anliegen ist, dass jeder Luxemburger auf dieses Orchester stolz sein soll. Vielleicht muss man den Leuten erklären, was ein großes Orchester ist, wie und warum es mit anderen großen Orchestern verglichen werden kann und welche großartige Vision wir mit diesem herausragenden Klangkörper verbinden… Auch der neue Saal wird dazu beitragen, Luxemburg auf der internationale Karte des Musiklebens auszuzeichnen. Wir müssen diese Vision haben! The sky is our limit! Für diese Sache will ich mich ganz und voll engagieren. In Winnipeg dauerte es sechs Monate, und die Leute erkannten mich auf der Straße, hielten mich an, redeten mit mir. In Vancouver brauchte es doppelt so lange. Doch hier soll es nicht länger dauern. Man soll mich mit dem Orchester identifizieren können, ich will dem Orchester mein Gesicht geben. Nach dem letzten Konzert des Vancouver Symphony in der Saison 2001/2002 ging ich hinter die Bühne, wo sich recht viele Leute versammelt hatten. Es gab viel Händeschütteln. Ein Freund von mir kam mit seiner Partnerin, die er mir vorstellte. Sie ist Journalistin für den französischsprachigen Kanadischen Rundfunk. Sie war im Xenakis-Konzert in Paris und war derart begeistert vom Luxemburger Orchester, das dieses Konzert im Châtelet spielte, dass sie Radio Canada dazu brachte, das Konzert zu übernehmen und kanadaweit auszustrahlen. Das machte mir umso mehr Freude als sie eine wirklich abgehärtete Radiojournalistin ist, zudem aus Québec, wo man gemeinhin noch strenger ist als im englischsprachigen Teil des Landes. Es war wunderbar, dies zu hören!
Was tun Sie, wenn Sie keine Musik machen?
Ich habe zwei kleine Kinder, 2 und 3 Jahre alt, und meine Frau hat eigentlich die ganze Last des Haushalts. Ich liebe die Kinder aber sehr. Meine Frau ist mir eine große und wertvolle Hilfe in meinem Beruf. Sie kommt zu jedem Konzert. Ich habe einen weiteren, einen älteren Sohn aus einer ersten Ehe, der in England lebt. Das sind also die Leute, die mich mit der Musik teilen müssen. Für mich ist mein Job nicht nur meine Beschäftigung, es ist meine Leidenschaft, es ist meine Berufung, es ist eine alles umfassende Tätigkeit. Ich komponiere, spiele, dirigiere. Ich habe nun zwei Orchester auf beiden Seiten der Welt, und beide sind grandiose Formationen, mit denen man wundervoll arbeiten kann. Daneben bleibt sehr wenig Freizeit. Ich lese viel, meistens drei oder vier Bücher gleichzeitig, Philosophie, Literatur, Musikbücher. Zurzeit beschäftige ich mich mit der Philosophie der Mathematik. Nachdem mich die Musiker überredet hatten, dieses Jahr am ‘Vancouver Fun Run’ teilzunehmen – 10 Kilometer!- gehe ich fünfmal in der Woche laufen. Ich liebe es, spazieren zu gehen. Im Sommer spiele ich auch etwas Kricket.
Gehen Sie auch in Konzerte?
Ja, so viel wie möglich! Ich gehe oft in Konzerte des ‘Vancouver Symphony Orchestra’, die ich nicht dirigiere. Das bringt mir viel. Ich lerne auch mich selber besser einschätzen, wenn ich Andere bei der Arbeit beobachte. Als ich in New York war, um das Philharmonic zu dirigieren, nutzte ich die Gelegenheit, um in ein Maximum an Konzerten und Opernvorstellungen zu gehen. In meinen letzten Ferien,… das sind leider schon drei Jahre her, mieteten wir ein Auto, waren in Bregenz, in München, in Salzburg, in Bayreuth bei den Festspielen, besuchten unzählige Museen und zahllose andere Sehenswürdigkeiten…Ich glaube, je mehr ich gesehen und erlebt habe, desto besser kann ich die Welt verstehen, in der ich lebe, und umso eher kann ich dieses Verständnis in meine eigene Arbeit einbringen. Oh ich vergaß… seit wir in Vancouver leben, bin ich ein leidenschaftlicher Gärtner. Unser Klima dort ist wie das des Regenwaldes. Man sieht alles wachsen… und das fasziniert mich sehr.