Anders Beyer
Photo:Martin Hoffmeister

Fast inflationär hat sich die globale Musikfestival-Landschaft in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt. Dabei scheint für programmatische Vielfalt ebenso gesorgt zu sein wie sich schleichend künstlerisch-musikalisches Einerlei etabliert, denn die Furcht vor der Verweigerung zahlungskräftiger Publika generiert nicht immer originäre oder gar experimentelle Konzepte. Deutlich hervor aus dem konventionellen Festivalbetrieb hebt sich seit Jahren das ‘Bergen International Festival’ in Norwegen. In der, nach Oslo, zweitgrößten Stadt des Landes entwickelte sich über Jahrzehnte sukzessiv eine Festival-Kultur, die den Vergleich mit wichtigen anderen Events wie etwa in Luzern, Salzburg oder Warschau nicht zu scheuen braucht. Im Gegenteil: Mit dem Festival leistet sich die Metropole an der Westküste Norwegens  eine zweiwöchige Veranstaltungsreihe, die in Programmatik und Angebotsspektrum seit jeher als paradigmatisch gilt. Ob Konzerte (Klassik, Jazz, Worldmusic, Folk, Electronic), Oper, Ausstellungen, Panels, Ballett, Multimedia, Film, Theater oder Street Entertainment – das Festival’ bietet neben wenigen traditionellen Angeboten vor allem: Avantgarde und Experimentelles. Dem heimischen Publikum gefällt das ebenso wie den zahllosen Besuchern aus aller Welt, die sich weder vom Wetter – Bergen gilt als die regenreichste Metropole Europas – noch von den, für zentraleuropäische Portemonnaies, immensen Preisen abschrecken lassen. Warum auch: Über das kulturelle Angebot hinaus bietet die Stadt eine perfekte Infrastruktur, zahlreiche atmosphärische Spielstätten, grandiose Musiker und Ensembles und, nicht zuletzt, spektakuläre Landschaften.

Im Gespräch mit Martin Hoffmeister erläuterte der neue Direktor Anders Beyer seine Vision eines zeitgemäßen Festivals.

Hoffmeister-Beyer

Anders Beyer und Martin Hoffmeister

MH: Herr Beyer, Sie sind ein vielgereister Mann und gelten als einer der profiliertesten und erfahrensten Kulturmanager Europas. Was hat Sie bewogen, das ‘International Bergen Festival’ zu übernehmen?
AB: (Lacht) Man könnte sagen, dass ich mich über 30 Jahre lang in verschiedenen Tätigkeiten auf diesen Job vorbereitet habe! Ich konnte Erfahrungen bei diversen Medien sammeln, ich habe an der Universität gelehrt und Festivals für Neue Musik und ein Opern-Festival geleitet. In meinem jetzigen Job kann ich all diese Erfahrungen zusammenführen. Auch vor diesem Hintergrund kann man sagen: Es gibt keine größere Herausforderung als diesen Job, denn das Festival versammelt fast alle denkbaren Kunstformen, Musik aller Genres und Stile ebenso wie Theater, Ballett und sogar Zirkus-Projekte.

MH: Welchen Stellenwert hat das Festival im Vergleich zu wichtigen anderen europäischen Veranstaltungen?
AB: Das ‘Bergen International Festival’ ist ein sehr großes Festival, gewissermaßen die Kronjuwele unter vergleichbaren Veranstaltungen. Unsere Archivschätze sind mittlerweile Bestandteil des norwegischen National-Archivs, was nichts anderes heißt, als dass der norwegische Staat das Festival als konstitutive Größe im Zusammenhang mit der Entwicklung der norwegischen Kultur und Gesellschaft begreift. Genau deshalb ist dieser Job für mich eine immense, aber durchaus auch stimulierende Herausforderung. Hinzu kommt das tatsächlich opulente Budget, das man in Bergen zur Verfügung hat. Wir haben eine Reihe sehr potenter Sponsoren. Nur Oper und Ballett erhalten mehr Geld als das Festival. Diese Faktoren zusammengenommen, führen natürlich dazu, dass man Dinge realisieren kann, die woanders nicht möglich sind.

MH: Kaum ein zweites europäisches Festival zeigt ein ähnlich weitgefächertes Angebotstableau. Gibt es weitere Alleinstellungsmerkmale ?
AB: Unsern europäischen Mitbewerbern gegenüber haben wir einen bedeutenden Vorteil: Wir haben einfach nicht so viele Verpflichtungen Irgendwem gegenüber. Wir können frei agieren und müssen uns weder gegenüber der Stadt legitimieren noch auf irgendwelche Traditionen Rücksicht nehmen. In Oslo wäre das ganz anders, da müsste man diplomatischer vorgehen. In Bergen können wir uns einfach mehr leisten und, im positiven Sinne, respektloser und innovativer agieren. Ein großer Wunsch von mir ist, in Bergen möglichst viele originäre Angebote auf die Bühnen bringen. Als Festival-Direktor möchte ich eine Art von Geburtshelfer für Neues sein. Ich möchte, um es paradox zu formulieren. dass in Bergen die Zukunft gegenwärtig ist: Im Theater, in der Musik, in Allem. Wer nach Bergen reist, soll die Erfahrung des Neuen und Experimentellen machen. Tradition und Avantgarde schließen sich ja nicht aus.

Bergen-Open Air

Christina Pluhar und L’Arpeggiata beim Open Air Konzert in der Bergener Fussgängerzone
Photo: Martin Hoffmeister

 

MH: Eine freundliche Attacke gegen die Konvention?
AB: Für mich ist es ganz wichtig, dass dieses Festival nicht museal daherkommt, dass es lebt und vor allem die Stadt belebt. Was man wissen sollte: Als Hansestadt war Bergen immer sehr international. Man betrieb hier damals weltweiten Handel. Bergen war damals die größte Stadt in den nordischen Ländern. Genau daraus resultiert auch dieses immense Selbstvertrauen der Leute. Sie denken noch immer, dass sie die größten sind! Und dass Bergen die eigentliche Hauptstadt Norwegens ist! Abgesehen davon sind die Menschen ungemein stolz auf das Festival, sie sind stolz auf das ‚Philharmonische Orchester’, auf das Tanz-Ensemble etc.. Was aber noch viel wesentlicher ist: Die Stadt versteht das Festival, versteht Kunst und Kultur im allgemeinen als nachhaltige Garanten für eine stabile Identität der Menschen. Und genau so denken in Norwegen eben alle: Alle politischen Parteien der Stadt und des Landes stehen entschieden zur Kulturförderung. Entsprechend unterstützt Norwegen Kunst und Kultur mit immerhin einem Prozent des jährlichen Etats. Und das ist vergleichbar viel Geld!

MH: 2013 war Ihr erster Jahrgang als Festival-Direktor. Wie sehen Ihre Pläne für die kommenden Jahre aus?
AB: Ich konnte mich noch nie mit der Idee eines Mainstream- Festivals anfreunden, das von allem ein bisschen auftischt. Im Fokus meiner Arbeit werden auch in den kommenden Jahren unkonventionelle, avantgardistische Konzepte stehen. Und diese Festival-Idee und der Spaß an der Sache sollen auch in den Strassen und auf den Plätzen von Bergen sicht- und hörbar sein. Außerdem werden wir unsere Angebote für Kinder und Familien erweitern. Entscheidend für mich allerdings ist weiterhin die Konzentration auf die Extreme. Ich will schockieren, Unmögliches möglich machen, kontrollierte Skandale inszenieren. Die ganze Stadt soll vibrieren während des Festivals!

Bergen-Oper

Tan Duns Oper ‘Marco Polo’ in der Grieg-Halle
Photo: Martin Hoffmeister

 

MH: Wenn man einen Blick wirft auf die europäische Festival-Landschaft, fällt bisweilen eine gewisse inhaltliche resp. personelle Nivellierung bzw. Austauschbarkeit auf…
AB: Richtig, und genau dass möchte ich in Bergen auf keinen Fall haben. Warum überall und immer wieder dieselben populären Stars einladen, die gerade auf Tour sind und natürlich auch in Bergen einen Zwischenstopp einlegen würden? Das wäre nicht gerade innovativ. Warum nicht mal anders: Zu meinen jüngsten Ideen gehört, alle Musiker, die hier gastieren, im Vorfeld ihres offiziellen Auftritts in den Strassen auf kleinen Bühnen musizieren zulassen. Sie sollen allen Passanten zeigen: Wir sind hier und wir sind verdammt gut! Auch das ist eine Art der Demokratisierung von Kunst, weil potentiell jeder sehen und hören kann, wie vielseitig und abwechslungsreich Musik sein kann. Ich bin sicher, dass es Vielen gefallen wird, und dass Einige später ins Konzert kommen werden, Menschen, die möglicherweise niemals zuvor etwas mit Klassik oder Jazz zu tun hatten.

MH: Ein paar Worte noch zum norwegischen Publikum. Unterscheidet es sich von anderen europäischen Publika?
AB: Das norwegische Publikum ähnelt natürlich allen anderen Publika. Was mich in diesem Kontext allerdings viel mehr interessiert, ist, wie man neue Publikumsschichten in die Konzerte locken kann. Ich nehme mir deshalb sehr viel Zeit dafür, zu erfahren, wie die Menschen auf unser Festival-Angebot reagieren. Wenn  ich beispielsweise auf dem Fischmarkt bin, schenke ich meiner Verkäuferin ein paar Tickets für sich und die Familie. Ich möchte, dass auch kulturfernere Leute mal ins Konzert oder ins Theater kommen. Das ist das Ziel!

MH: Norwegen ist bekannt für seine profilierte Musik- und Theaterszene mit zahllosen aussehrgewöhnlichen Protagonisten. Nach welchen Kriterien buchen Sie Künstler und Musiker ?
AB: Natürlich versuche ich, ein balanciertes Tableau aus nationalen und internationalen Künstlern zu etablieren. Das liegt auf der Hand, und das erwartet das Publikum auch. In diesem Jahr beispielsweise hatten wir auf der einen Seite international renommierte Musiker und Ensembles wie das ‚Freiburger Barockorchester’, Andreas Scholl, Christina Pluhar, das Hagen Quartett oder das ‘Mahler Chamber Orchestra’ eingeladen, auf der anderen Seite Protagonisten der norwegischen Szene wie Vilde Frang, Truls Mork, Leif Ove Andsnes oder die ‘Trondheim Soloists’ und das ‘Bergen Philharmonic Orchestra’, die eindrücklich zeigen, welches künstlerische Potential in der Region vorhanden ist. Wie auch immer: Das Festival soll ein internationales, kein lokales Event sein – ein Fenster zur Welt !

Bergen-Konzert

Das ‘Mahler Chamber Orchestra’ beim Konzert in der Grieg-Halle
Photo: Martin Hoffmeister

 

MH: Viele Musikliebhaber blicken mit zunehmender Hochachtung nach Norwegen und auf dessen weltweit einmalige Jazz- und Klassikszene. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg ?
AB: Tatsächlich haben wir in Norwegen eine einzigartige, einmalige Kulturszene, vergleichbar vielleicht mit der in Finnland in den 80er Jahren vergangenen Jahrhunderts. Die skandinavischen und nordischen Länder haben nach dem 2. Weltkrieg eine Menge Geld in Kultur investiert, und das macht sich heute bezahlt. Denken wir beispielsweise an Namen wie Esa-Pekka Salonen, Jukka Pekka Saraste, Kaija Saariaho oder Magnus Lindberg, mittlerweile wichtige Figuren innerhalb der europäischen Musik-Szene. Ohne diese stattlichen Investionen gäbe es diese Musiker und Komponisten möglicherweise nicht. Mit seinen Ölvorkommen, mit seinem Fisch und der Offshore-Industrie generiert Norwegen heute viel Geld. Es gehört zu den reichsten Ländern der Erde. Mit diesem Geld können wir generös arbeiten und Talente fördern: Vilde Frang und Leif Ove Andsnes beispielsweise hatten ihr Debüt beim Bergen Festival. Klar also, dass wir auch in Zukunft Nachwuchsmusiker und – Komponisten fördern werden.

Im kommenden Jahr findet das Festival vom 28. Mai bis 11. Juni statt. (Infos unter: www.fib.no)

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