Mit Pizzicato-Mitarbeiter Alain Steffen spricht Anne-Sophie Mutter über ihre Karriere, Karajans Klangwelten und ihre Verhältnis zum Publikum

Anne-Sophie Mutter
Photo: Deutsche Grammophon

Frau Mutter, Wenn Sie heute auf Ihre bisherige Karriere zurückblicken, was sind die entscheidenden Momente und Begegnungen, die Ihnen spontan einfallen?

Das ist schwierig zu beantworten, weil jede Begegnung und jedes Konzert mich geprägt hat. Aber es sind sicherlich die Uraufführungen, die vielleicht den größten Eindruck hinterlassen, wegen ihres ganz besonderen Vorbereitungsprozesses. Auch die zyklischen Aufführungen der Werke von Mozart und Beethoven haben sich mir sehr eingeprägt. Sie haben mit sich gebracht, dass ich mich doch sehr intensiv mit der Musik auseinandersetzen und mich auch selber in Frage stellen musste. Und ich war oft erstaunt, wie sich meine Ansichten doch seit meinen frühen Teenagertagen verändert hatten und welche Möglichkeiten sich mir hinsichtlich Interpretation und Phrasierung boten, Möglichkeiten, die ich früher einfach überhaupt nicht gesehen habe. Und somit ist auch jede CD-Aufnahme, die immer eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk mit sich bringt, ein sehr wichtiger und entscheidender Moment im Leben eines Künstlers, weil er hier seine Interpretation und somit sein musikalisches Niveau auf unauslöschliche Weise festhält.

Und weil ich kein Musiker bin, der routiniert auf die Bühne geht, sondern immer versucht, das Beste aus sich herauszuholen, was auch manchmal nicht gelingt, ist auch jede Zusammenarbeit mit einem Dirigenten, einem Orchester oder einem Kammermusikpartner eine mal mehr oder mal weniger bereichernde Erfahrung. Routine ist in dem Sinne eine sehr gefährliche Sache, weil ein Künstler meint, ein Werk zu kennen und zu beherrschen und sich nicht mehr für die persönliche Entwicklung öffnet, sein Spiel- und Hörverständnis also das Gleiche bleibt.

Aber es ist doch auch so, dass ein großer Teil des Publikums sehr konservativ ist und dieses ewig Gleiche schätzt, während Künstler, die es wagen, sich dem Mainstream zu widersetzen, schnell kritisiert werden.

Neue Informationen bringen neue Aufführungspraxen. Das gilt sowohl für den Musiker wie auch für den Zuhörer. Sie haben Recht. Wenn ein Interpret vor einem konservativen Publikum versucht, neue Wege zu gehen, wird er sicherlich anecken. Aber auch das Gegenteil ist es der Fall. Ein Musiker, der auf Nummer sicher gehen will und sich nur auf eine gefällige und routinierte Interpretation verlässt, findet vor einem hellhörigen und aufgeschlossenen Publikum, wie man es oft auf Festivals findet, keinen Zuspruch. Das Hörverständnis wie auch der Geschmack sind einem ständigen Wechsel unterworfen, und es ist letztendlich das Umfeld, in dem man die Musik erlebt, das diesen Prozess des  Hörens beeinflusst. Aber wohlgemerkt, wir sind in diesem Falle dabei, über einen jahrzehntelangen Prozess zu diskutieren.

Glauben Sie, dass es  für einen begabten Teenager heute schwieriger ist, auf den internationalen Bühnen Fuß zu fassen, als es zu Ihrer Zeit war?

Nein, ich glaube nicht. Ich glaube sogar, dass es heute in vielfacher Weise einfacher ist, oft viel zu einfach, weil man sich bewusst junge Menschen aussucht, die aus außermusikalischen Gründen in ein gewisses Schema passen und somit für eine Karriere aufgebaut werden. Das war vor dreißig Jahren sicherlich nicht so, das Marketing war ein ganz anderes und es war damals völlig normal, dass ein junger Künstler langsam aufgebaut und behutsam in die internationale Welt der Musik eingeführt wurde. Heutzutage werden einige junge Menschen hochgeschossen, zu Stars gemacht, wobei man sich heute an den Strategien der Pop-Welt orientiert. Und das ist in meinen Augen komplett falsch, denn in der Klassik kümmern wir uns um ein Repertoire, das Jahrhunderte alt ist. Und die Popbranche lebt von schnellen, kurzlebigen Hits. Jeden Tag ein neues Lied, jede Woche eine andere Mode. Das sind zwei ganz verschiedene Welten und somit auch verschiedenen Regeln unterworfen. Einen klassischen Musiker als eine Art Pop-Star zu verkaufen, passt einfach nicht und wird sich auch für die Musikindustrie auf lange Dauer nicht bezahlbar machen.

Schauen Sie, wir spielen doch eigentlich immer die gleichen Stücke und unsere Aufgabe ist es, im Laufe unseres Lebens eine Reife zu erreichen, um gerade diese alten Meisterwerke so tief wie nur möglich zu begreifen. In der Pop-Welt wird ein Musiker nur daran gemessen, wie viele Hits er landet.

Und welche Rolle spielen Klassik-Wettbewerbe? Katapultieren nicht auch sie manchmal Musiker ohne ausreichende Erfahrung auf den Markt?

Das kann vorkommen. Aber Sie müssen bedenken, dass Wettbewerbsteilnehmer bereits über ein erstaunliches Niveau verfügen und bereits gute Musiker sind, die auch über ein breites Repertoire verfügen sollten. Das Musikerleben beginnt ja schon mit fünf, sechs Jahren, und ehe ein Musiker sich einem Wettbewerb stellt, hat er genügend Zeit, um sich wenigstens ein Basisrepertoire aufzubauen. Ich persönlich sehe das Problem auf einer anderen Ebene. Ich glaube, dass Wettbewerbe immer ungerecht sind und auch nicht unbedingt als Maßstab für künstlerisches Können genommen werden dürfen. Die wirklichen Talente, und das zeigt uns die Geschichte, wurden nur selten durch einen 1. Preis entdeckt und von der Mehrzahl jener, die als Gewinner hervorgegangen sind,  hört man bereits nach wenigen Jahren so gut wie nichts mehr. Hier wie dort gibt es aber auch immer wieder Ausnahmen.

Wettbewerbe sind aber eine gute Nervenschmiede, bei dem jeder Musiker sehen und spüren kann, in wie weit er diesem Druck standhalten kann. Wettbewerbe sollte man nicht zu ernst nehmen.  Sie haben vorhin das Repertoire angesprochen. Es genügt in der Tat nicht, sich als Musiker mit einem kleinen oder größeren Repertoire zufrieden zu geben. Ich bin der Meinung, dass man als ausführender Musiker nur wachsen kann, wenn man tagtäglich an seinem Repertoire arbeitet und es immer weiter ausdehnt, Sachen spielt, die man nicht kennt, Musik lernt, die einen fordert und die den künstlerischen Horizont enorm erweitert.

Für Sie war ja Herbert von Karajan ein Mentor.

Auf jeden Fall. Als ich Herbert von Karajan kennen lernte, war ich gerade einmal 13 Jahre alt und dabei, mir mein Repertoire zu erarbeiten. Ich gehe so weit und sage, dass alles, was ich in den folgenden dreizehn Jahren bis zu Karajans Tod gemacht habe, durch seine Hände ging. Ich war damals schon bei meiner Geigenlehrerein Aida Stucki, zu der ich mit 10 Jahren gekommen war. Dank ihr war ich ziemlich fit und hatte keine Schwierigkeiten, mir parallel dazu mein Repertoire auch mit Karajan zu erarbeiten. Seine Sichtweise vom Beethoven-Konzert ist eine, die mich bis heute am meisten geprägt hat und immer noch prägt. Es war dieser epische Gedanke, diese langen, melodischen Bögen, die Beethoven zwar nicht unbedingt auskomponiert hat, die man aber durchaus mental begreifen und spüren kann. Und wenn man sich dieser unsichtbaren Linie, deren Erarbeitung eine unwahrscheinliche Konzentration voraussetzt, bewusst ist, dann kann man auch die Architektur des Werkes bereits vorspüren. Und von Herbert von Karajan habe ich dieses Vorspüren der Architektur gelernt. Und daraus resultiert dann die innere Spannung. Auch wenn man heute noch Karajans Aufnahmen anhört, es ist immer wieder diese innere Spannung, die sich auf einen großen unsichtbaren Bogen stützt, die sein Musizieren auszeichnet.

Und wie verlief das erste Treffen zwischen dem talentierten Teenager und dem weltbekannten Maestro?

Mein erstes Treffen war zugleich mein erstes Vorspiel. Das war am 11. Dezember 1976. Ich wurde Backstage in sein Zimmer gebeten. Ich erinnere mich, wie er aus seinen privaten Räumen in diesen Audienzsaal trat. Das Zimmer war plötzlich erfüllt von ihm. Er trug einen Kamelhaarmantel und diese auratische Erscheinung war etwas, was mich auch die nächsten dreizehn Jahre gefangen hielt. Er war unglaublich liebenswürdig und sichtlich bemüht, mir flatternde Nerven zu nehmen. Unsere Zusammenarbeit war immer geprägt von großer Fürsorge seinerseitsm aber auch von strengster Anforderung und Herausforderung andererseits. Karajan gab mir immer die Gewissheit, dass er genau wusste, wo meine Grenzen waren, sie aber ausloten wollte bis zum Äußersten.

Hat er Sie damals als ausführende Künstlerin auch wirklich wahr- und ernstgenommen?

Er ist mir immer mit sehr viel Respekt entgegengetreten und hat mich, die Dreizehnjährige, beispielsweise immer gesiezt. Ich war für ihn kein Kind, sondern wurde von ihm als eine Erwachsene betrachtet. Und es war für mich damals natürlich sehr wichtig und aufbauend, von einem Musiker wie Herbert von Karajan wirklich ernst genommen zu werden.

Man hat Karajan vorgeworfen, ein Macher zu sein und beispielsweise Sänger Rollen singen zu lassen, die ihnen nicht unbedingt entsprachen, sondern weil er es gerne so haben wollte.

Das mag bei den Sängern zum Teil stimmen. Aber man muss auch bedenken, dass er ganz oft Recht hatte und den Sängern zeigte, wie sie über ihre Grenzen hinausgehen konnten. Ich glaube vielmehr, Karajan hat den Sängern Türen aufgemacht, hat ihnen die Kraft gegeben, an sich selbst zu glauben. Und er hatte Visionen! Und die er versuchte, mit Künstlern, an die er wirklich glaubte, umzusetzen. Das kann man ihm doch nicht vorwerfen.

Am Anfang Ihrer Karriere haben Sie quasi alle großen Konzerte mit ihm eingespielt. Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Bruch, Tchaikovsky….

….. ja sogar das Violinkonzert von Alban Berg wollte er damals mit mir machen. Da habe ich aber dann selbst gebremst. Mit Anfang Zwanzig war ich einfach noch nicht reif für dieses Werk. Das hat er dann auch so akzeptiert.

Wenn Sie heute ein Konzert wie jenes von Mendelssohn spielen, welche Veränderungen stellen Sie dann fest?

Bei dem Mendelssohn-Konzert hat sich enorm viel verändert, viel mehr als bei allen anderen Konzerten. Aus zwei Gründen: Der erste Grund liegt darin, dass es eine Zeit gab, wo ich Mendelssohns Konzert überhaupt nicht mehr aufgeführt habe. Das kam dadurch, dass ich in meinen Teenager-Jahren eine schwierige Beziehung zu diesem Stück hatte und es irgendwann nicht mehr spielen wollte. Ich legte also eine sogenannte Trennungsphase ein. Und diese Trennungsphase hätte sicherlich noch einige Jahre angedauert, wenn nicht Kurt Masur sich dieses Mendelssohn-Konzert von mir zu seinem achtzigsten Geburtstag gewünscht hätte. Und ich konnte und kann auch heute noch Kurt Masur nichts abschlagen und so habe ich es schließlich wieder neu studiert. Mit neuen Phrasierungen, teilweise mit anderen Fingersätzen, mit einem ganz neuen Ansatz, was die Tempi betrifft. Und dies besonders im 2. Satz. Kurt Masur wies mich hier auf ein Gondoliere-Lied hin und wie sich dieses Lied im Violinpart wie auch im Orchestersatz wiederspiegelt, er lehrte mich ganz Neues über die Tempi, deren jugendliche Frische mit ihrem ungestümen Vorwärtsdringen, also etwas, das man in der typisch deutschen Interpretationsweise in dieser Form fast nie findet. Das hat natürlich dem Duktus und der Gestik des Stückes natürlich ein ganz anderes Gesicht gegeben, so dass die Veränderung zwischen meiner ersten Aufnahme mit Herrn von Karajan und der Wiederaufnahme mit Kurt Masur doch einen unwahrscheinlichen Sprung manifestiert, der in meinen Wiedereinspielungen anderer Konzerte sicherlich nicht so deutlich spürbar ist.

In dieser Aufnahme mit Kurt Masur scheint sich die Musik tatsächlich von allem Irdischen zu lösen.

Ja, mit Kurt Masur kann man als Solist wirklich schweben. Und diesen Aspekt des Fliegens, der ja tatsächlich in der Musik von Mendelssohn liegt, kann Masur wie kaum ein anderer Dirigent vermitteln. Masur bringt es fertig, dass die Seelen der achtzig Musiker wie eine einzige klingen und dabei eine Freiheit und Offenheit verströmen, die es dem Solisten erlauben, einfach loszulassen, sein Ding zu machen und trotzdem mit den Musikern zu einer gemeinsamen musikalischen Einheit zu verschmelzen.

Wie kann man sich erklären, dass die einen Werke der Musikliteratur quer durch die Jahrhunderte präsent waren und die Menschen aller Epochen angesprochen haben, während andere Werke wiederum irgendwann in Vergessenheit geraten sind? Anders gefragt, was ist das Geheimnis großer Musik?

Es gibt einfach Musik, die nicht über genügend musikalische Substanz verfügt oder die irgendwann aus der Mode kommt und somit nicht den Jahrhunderten standhält. Alle großen Werke dagegen besitzen zeitlose Aktualität und haben die Fähigkeit, die Menschen immer wieder zu berühren und zu begeistern. Und wenn uns ein Stück berührt, dann kehren wir immer wieder gerne zu ihm zurück, sei es als Interpret, sei es als Zuhörer. Aber das ist im Leben des Menschen nichts Außergewöhnliches. Wir kehren ja auch immer wieder zu unserem Lieblingsessen zurück und reisen gerne an Plätze, wo wir schon waren, eben, weil es uns da gefallen hat. Wenn der Mensch ein Glücksgefühl erlebt hat, dann wird er intuitiv immer wieder die Situation aufsuchen, um es noch einmal zu erleben. Genau so ist es mit der Musik von Beethoven, Mozart und Mendelssohn. Darüber hinaus wird man in dieser großartigen Musik jedes Mal wieder etwas Neues entdecken, weil jede Aufführung anders ist.

Auf der anderen Seite gibt es sicherlich noch hochwertige Werke, die im Laufe der Zeit aus welchen Gründen auch immer in Vergessenheit geraten sind, und die sich durchaus im heutigen Konzertleben behaupten könnten. Ich sage ‘könnten’, weil es für uns Interpreten sehr schwierig ist, neben den Hunderten von etablierten Stücken, noch die Zeit zu finden, erstens, neue, qualitativ hochwertige Musik zu entdecken, zweitens, sie noch einzustudieren und drittens, sie Organisatoren und Publikum schmackhaft zu machen.

Das Gelingen eines Konzertes hängt ja auch vom Publikum ab. Wie nehmen Sie das Publikum wahr, welche Interaktionen laufen ab, während Sie spielen?

Der Kanal des Hörens von unten nach oben ist ständig offen. Ich nehme das Publikum wahr, vom ersten Moment, wo ich auf die Bühne trete, bis zum Verklingen des letzten Tones. Ich empfinde es natürlich als störend, wenn ein Publikum unruhig ist und versuche, dem vielleicht durch noch mehr Faszinationskraft der Interpretation entgegenzuwirken. Es ist eigentlich ein sehr subtiler und sehr unterbewusster Versuch, die Kommunikation auf ein Level zu bringen, das noch mehr Eingestimmtheit beim Zuhörer erzeugt. Es ist wirklich schwer, einen ganzen Saal mit an Bord zu nehmen und es erfordert auch vom Zuhörer, den Willen sich zu konzentrieren und sich auf die Musik einzulassen. Überhaupt wird es heute für den Zuhörer immer schwieriger, entspannt zu einem Konzert zu kommen. Oft kommt man direkt vom Büro oder stand in einem Stau. Dann braucht man natürlich seine Zeit, um sich zu sammeln. Und diese Nervosität und Spannung spüren natürlich auch wir Musiker. Aber es gibt glücklicherweise viel mehr Konzerte, bei denen das Publikum still ist und den Atem anhält. Und das sind dann auch die Konzerte, die man gerne als Sternstunden bezeichnet, weil sie das Gefühl eines gemeinsamen Erlebens besitzen. Der Zuhörer fühlt sich sowohl mit all den anderen Zuhören wie auch mit den Musikern verbunden. Und dann beginnt die Musik zu fließen.

Wenn Sie heute noch einmal neu anfangen müssten, würden Sie den gleichen Weg wieder gehen?

Ich habe meinen Weg als Künstlerin sehr stimmig erlebt. In diesem Sinne kann ich Ihre Frage nur mit Ja beantworten. Etwas bedauere ich allerdings. Ich hätte gerne das Violinkonzert von Alban Berg zusammen mit Herbert von Karajan erarbeitet. Nur damals, als er mir das Angebot gemacht hat, war ich noch zu jung. Später hätte ich es liebend gerne nachgeholt.

Haben Sie Angst vor dem Moment, wo Sie technisch nicht mehr auf der Höhe sein werden?

Jeder Musiker weiß, dass der Moment kommen wird, wo er aufhören wird. Und jeder ehrliche Musiker wird diesen Moment erkennen und von der Bühne abtreten. Ich hoffe, dass ich dann mit Freude und Dankbarkeit auf diese Jahre zurückblicken kann und mich ohne Bitterkeit einem neuen Lebensabschnitt widmen kann. Aber ich bin achtundvierzig, trinke nicht und lebe auch sonst gerecht gesund. Dann ist die Chance doch gross, noch ein paar gute Jahre vor mir zu haben.

 

 

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