In zaristischen Zeiten gab es Bestrebungen, in denen die Obrigkeit und die Oberschicht den Blick nach Westen lenkten und sich die Errungenschaften des europäischen Kulturkreises zu eigen machen wollten, während das Volk arm, in Leibeigenschaft und sich selbst überlassen blieb. In diesem Umfeld wurde nach westlichen Mustern eine Hofmusik geschaffen, aus der sich langsam eine nationale russische Musik heraus entwickelte.
Dabei galt das Interesse führender russischer Komponisten der Vokalmusik, sei es dem Lied oder der Oper. Denn sie wollten nicht epigonenhaft die westliche Musik mit Sinfonie und Konzert nachahmen, sondern eine eigene, eben russische Ausrichtung, etablieren. Und das war aus ihrer Sicht die vokale Richtung.
Deshalb hatte es die Kammermusik zunächst schwer, da sie als Nachahmung gesehen wurde. Einer der frühen aus dem Westen an den Hof gekommenen, Anton Ferdinand Titz, schuf 1781 sechs Quartette, die er Alexander I. widmete. Das dritte Werk aus diesem Zyklus, mit dem Titz eigenen Gestus schon in romantische Sphären weisend, endet mit einer kapriziösen Polonaise, die den Primgeiger fordert.
Dieser mühsame Weg zu einer russischen Quartettkomposition bedurfte weiterer glücklicher Umstände, um weiter beschritten zu werden. Der reiche und kunstbegeisterte Kaufmann Mitrifan Belaieff, ein Förderer und später auch ‘Manager’ von Alexander Glazunov, initiierte eine private Kammermusikgesellschaft in seinem Haus. Dabei wurden jeden Freitag in komfortablem Ambiente zunächst jeweils ein klassisches Werk, also Haydn, Mozart oder Beethoven gespielt, sowie ein neues, etwa von Schubert oder auch Unbekannteres wie etwa von Onslow. Den Abschluss bildete ein russisches Werk, oft noch von feuchter Tinte prima vista vorgetragen und von intensiven Diskussionen über die Qualität begleitet. In diesen Kontext gehören die ‘5 Novelletten’ von Glazunov. Das Interludium in der Form eines russisch orthodoxen Gottesdienstes wird von vier Sätzen, die im Titel regionale Bezüge tragen, wie das abschließende All’Ungherese. Diese Hinweise sind wohl eher abstrakt zu verstehen denn als wörtliche Zitate. Die Sätze dieser ‘Suite’ sind markant und prägnant komponiert und ein Fest für ein Streichquartett.
Am Ende dieser Aufnahme steht das frühe Meisterwerk von Tchaikovsky, sein erstes Quartett, das geschrieben wurde, als sich die Kammermusik in Russland als Gattung schon etabliert hatte.
Dem ‘casalQuartett’ ist zu danken, dass es mit der Auswahl dieser Werke und der Vorstellung des weitgehend unbekannten Titz die Entwicklung nachzeichnet und mit dem illustrativen und informativen (leider im deutschen Text nicht anständig redigierten) Beiheft verdeutlicht.
Die Musiker finden Mittel und Wege, die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Komponisten und auch der einzelnen Abschnitte bei Glazunov, deutlich zu machen. Die Spielfreude bei Titz, die manchmal auch zupackende Darstellung der unterschiedlichen tonalen Bilder bei Glazunov und schließlich die superbe Wiedergabe bei Tchaikovsky. Hier ist insbesondere das fließende und einnehmend, aber nicht süßlich gespielte Andante cantabile zu nennen.