In einer Zeit einer weltweiten Flüchtlingskrise gewinnen Wagners Musikdramen erstaunlicherweise an Aktualität. Man wird sich wieder bewusst, dass Wagners Helden Tannhäuser, Lohengrin, Stolzing und Parsifal eigentlich Antihelden sind, Außenseiter, Ausgestoßene, Fremde, die aus verschiedenen Gründen versuchen, Zuflucht in einer von strengen Regeln definierten „besseren“ Gesellschaft zu finden. Im Rahmen der diesjährigen Bayreuther Festspiele besuchte unser Mitarbeiter Alain Steffen die Vorstellungen von Die Meistersinger von Nürnberg (27.Juli), Lohengrin (29. Juli), Parsifal (30. Juli) und die Neuinszenierung von Tannhäuser (28. Juli) von Tobias Kratzer und war gerade von dieser regelrecht begeistert. Bis auf eine Ausnahme.
Die Meistersinger von Nürnberg in der Inszenierung von Barrie Kosky stellen das Werk selbst in den Mittelpunkt. Im ersten Akt probt Richard Wagner /Hans Sachs in der Villa Wahnfried mit seinen verschiedenen Alter Egos Stolzing und David, sowie Beckmesser/Hermann Levi, Eva/Cosima und Pogner/Franz Liszt seine Oper Meistersinger und stellt sie im zweiten und dritten Akt dann bei den Nürnberger Prozessen vor Gericht. Das Werk muss sich seiner (antisemitischen?) deutschen Geschichte stellen und es ist am Publikum, darüber zu urteilen, was die Meistersinger von Nürnberg letztendlich sind und was sie für die Gegenwart bedeuten. Das Publikum erlebte eine überwältigende musikalische Darbietung, allen voran der herausragende Michael Volle als Hans Sachs, der wie keiner diese Partie singen und zu gestalten weiß und im langen dritten Akt stimmlich und darstellerisch immer noch zulegen kann. Für mich einer der besten Interpreten, die ich in den letzten 35 Jahren hier gehört habe.
Ihm zur Seite standen gleichwertige Sänger: Johannes Martin Kränzle als wunderbar schräger Beckmesser und Publikumsliebling Klaus Florian Vogt als kraftstrotzender Stolzing. Camilla Nylund ist nun mehr die dritte und sicherlich beste Eva dieser Inszenierung. Ihr wunderschöner Gesang und die stimmliche Zurückhaltung passen sehr gut zu dieser Figur. Günther Groissböck (Pogner), Daniel Behle (David), Daniel Schmutzhard (Kothner) und Wiebke Lehmkul ergänzen die Hauptpartien auf allerhöchstem Niveau. Das zügige, detailfreudige und klar ausgearbeitet Dirigat von Philipp Jordan verleiht dieser dynamischen Inszenierung in allen Punkten die musikalische Leichtigkeit, die ihr entspricht, ohne dabei je plakativ zu wirken.
In Lohengrin sehnt sich der vom Gral hinabsteigende Hauptprotagonist nach der Aufnahme in die menschliche Gesellschaft, um dort die Liebe einer Frau zu erfahren. Während es Parsifal gelingt, sich vom Fremden zu einem Erlöser zu entwickeln, der die Menschen zueinander führt, scheitert Lohengrin trotz seiner guten Tat an der Unmöglichkeit, sich als den preiszugeben, den er in Wirklichkeit ist. War ich im letzten Jahr noch relativ angetan von Yuval Sharons Lohengrin in den Bühnenbildern und Kostümen von Neo Rauch und Rosa Loy, so wurden mir in diesem Jahr die Schwächen umso deutlicher bewusst. Sharon schafft es nicht, seine Geschichte von den surrealen Bildern Rauchs loszulösen und statt sich dieses starke Setting zu eigen zu machen, verliert sich Sharons Inszenierung in einer hilflosen, altbacken wirkenden und letztendlich nichtssagenden Personenregie, bei der zudem viele Ansätze nicht klar ausgearbeitet werden.
Musikalisch bewegte sich dieser Lohengrin dagegen auf sehr hohem Niveau. Vor allem das wunderschöne, ätherische Dirigat von Christian Thielemann wusste zu überzeugen, der wie kaum ein anderer sich die besonderen akustischen Verhältnisse des Festspielhauses zu Nutze machen konnte. Und davon profitierten auch die Sänger. Klaus Florian Vogt begeisterte wieder einmal in der Titelpartie. Die Stimme ist zwar schwerer geworden, hat aber auch an Expressivität hinzugewonnen und dort, wo purer Schöngesang erforderlich ist, da geizte Vogt auch nicht mit einem sehr feinen und schönen Gesang. Als Elsa hörten wir Annette Dasch, die in letzter Minute für die erkrankte Camilla Nylund eingesprungen war. Dasch war die gefeierte Elsa der vorherigen Lohengrin-Inszenierung hier auf dem Grünen Hügel und wurde auch als Einspringerin (trotz verständlicher Unsicherheiten) stürmisch bejubelt. Großartig auch Georg Zeppenfeld als sonorer König Heinrich. Schade, dass Sharon das Paar Ortrud-Telramund über weite Strecken ihre Partien nur schreien ließ. Trotz exzellenter Leistungen blieben Elena Pankratova und Thomasz Konieczny, was die Gestaltung anbetrifft, somit etwas hinter den Erwartungen zurück.
Uwe Erik Laufenberg lässt die Nebenhandlung des 1. Aktes Parsifal in einem Flüchtlingslager spielen, einer Kirche in dem Krisengebiet Aleppo. Es geht hier um die Überwindung religiöser Rituale, ja um das Auflösen der verschiedenen Religionen zu Gunsten einer humanen, völkerverständigenden Utopie, symbolisiert durch das Aufgeben und Loslassen der religiösen Relikte. In diesem fernöstlichem Parsifal bieten in erster Linie Andreas Schager in der Titelrolle (endlich ein wirklicher Heldentenor, der zudem wunderschön und sehr deutlich singt) und Günther Groissböck als stimmgewaltiger Gurnemanz die besten Leistungen. Und natürlich auch Elena Pankratova, die nach ihrer von Regisseur Sharon undifferenziert angelegten Ortrud, seit drei Jahren jetzt endlich zeigen darf, was sie kann. Eine bessere, intensivere und gestalterisch überzeugendere Kundry hat es seit der schon zur Legende gewordenen Waltraud Meier hier in Bayreuth (1983-1992) nicht mehr gegeben. Und das ist immerhin schon ein Vierteljahrhundert her. Mit Derek Walton als Klingsor empfiehlt sich ein Vertreter der jüngeren Sänger-Generation während Ryan McKinny als eher blasser Amfortas doch etwas abfällt. Im Orchestergraben waltet Semyon Bychkov und genießt die Akustik in allen Zügen. Selten hat man den Parsifal hier so detailfreudig und trotz z.T. zügiger Tempi, so schwebend gehört, wie unter Bychkovs Leitung.
Kommen wir nun zum Tannhäuser in der Neuinszenierung von Tobias Kratzer. Und diese darf getrost als Geniestreich bezeichnet werden. Auf Anhieb gelingt es Kratzer, das Werk konsequent, farbenfroh und neu zu interpretieren und dabei eine schöne Balance zwischen Humor und Tragik zu halten. Um was geht es? Kurz: Tannhäuser ist Opernsänger und wurde vom Grünen Hügel verbannt. Seither tingelt er als Clown umher und das in Begleitung anderer Außenseiter wie der Anarchistin Venus, dem kleinwüchsigen Oskar Matzerath (aus der Blechtrommel) und dem schwarzen Travestiekünstler Le Gateau Chocolat. Als die keine Gruppe mit ihrem alten Citroën H einen Polizisten totfährt, verlässt Tannhäuser die Gruppe und kehrt nach Bayreuth zurück, in der Hoffnung, auch Elisabeth, die dort singt, wiederzusehen. Prompt wird er für die Titelrolle einer traditionell anmutenden Aufführung gebucht. Venus, Oskar und Le Gateau Chocolat haben sich auf die Suche nach Tannhäuser gemacht und dringen in das Festspielhaus ein. Venus fesselt einen der Edelknaben und übernimmt dessen Gesangsrolle auf der Bühne. Das Ganze endet in einem Chaos, die Festspielleiterin Katharina Wagner ruft die Polizei und Tannhäuser wird verhaftet. Im 3. Akt ist von Humor nichts mehr zu spüren. Die Szene spielt auf einer Müllhalde. Elisabeth schläft mit Wolfram in der der Kostümierung von Tannhäuser und schneidet sich danach die Pulsadern auf. Le Gateau Chocolat hat Karriere gemacht und besitz eine eigene Uhrenmarke. Oskar ist zum Obdachlosen geworden und Venus klebt weite ihre anarchistischen Plakate mit dem Wagner-Zitat: „frei im Wollen, frei im Tun, frei im Genießen“. Tannhäuser sitzt auf dem Boden und hält die tote Elisabeth in seinem Schoss. Ein berührendes Schlussbild.
Kratzers Geschichte ist die Geschichte des gescheiterten Versuches der Annäherung zwischen der freien, wilden und anarchischen Kunst und der hohen, regelbetonten und moralischen Kunst des Bürgertums. Und dies wird so überzeugend, ironisch, farbig, detailreich und mit vielen Seitenhieben erzählt, dass es eine pure Freude ist, Krater auf seinem Weg zu begleiten. Und dank einer hervorragenden Besetzung ist diese Freude gleich doppelt groß. Stephen Gould ist ein triumphaler, wenn auch nicht unbedingt schön singender Tannhäuser. Die Entdeckung der diesjährigen Festspiele dürfte wohl die junge norwegische Sopranistin Lise Davidsen sein, die mit einer atemberaubenden Stimme das Publikum zu wahren Jubelrufen hinriss. Sehr sexy und auch stimmlich äußerst attraktiv die Venus von Elena Zhidkova, die für die verletzungsbedingt ausgeschiedene Ekaterina Gubanova eingesprungen war. Markus Eiche war eine Idealbesetzung für den Wolfram und darf ebenfalls als großer Gewinner der diesjährigen Festspiele angesehen werden. Walther von der Vogelweide wurde auf höchstem Niveau von Daniel Behle gesungen, dessen Stimme immer heldischer zu werden scheint. Stephen Milling beeindruckte als Landgraf während die charmante Katharina Konradi als Hirt ihre Klasse bewies. Großes Lob auch für Le Gateau Chocolat (und seine zusätzliche Performance in der ersten Pause im Park des Festspielhauses) und für das stumme, im 3. Akt besonders intensive Spiel von Manni Laudenbach als Oskar.
Dirigiert wurde dieser Tannhäuser von Valery Gergiev. Und das war eine sehr große Enttäuschung! Weder schien Gergiev mit der Akustik des Festspielhauses zurecht zu kommen, noch schien er mit der Musik wirklich etwas anfangen zu können. In den beiden ersten Akten war seine interpretatorische Präsenz inexistent, nur im dritten hatte er dann einige schöne Momente. Für Bayreuth ist dies allerdings viel zu wenig und man muss sich wirklich Fragen, ob ein Dirigent, der hier anscheinend kaum persönlich mit den Sängern gearbeitet hat und dessen Terminkalender so gerammelt voll ist, wirklich der geeignete Mann für die seriöse Erarbeitung einer Produktion ist. Wie schon mit dem ebenfalls als Dirigent enttäuschenden Placido Domingo im Vorjahr scheint die Direktion mit der Verpflichtung des Megastars Gergiev aller Welt zeigen zu wollen: „Seht Ihr, auch den können wir bekommen.“ Nur, braucht Bayreuth ihn auch wirklich? Und über den Chor der Bayreuther Festspiele unter der Einstudierung von Eberhard Friedrich könnten wir jetzt noch wahre Lobeshymnen singen, aber das hieße, Eulen nach Athen tragen…..