In Bayreuth hat sich Alain Steffen für Pizzicato die Produktion Der Ring des Nibelungen und Der Fliegende Holländer angesehen und angehört.
Was ist ein Mythos? Diese Frage muss man sich unweigerlich stellen, wenn man sich mit dem Werk Richard Wagners, insbesondere dem Ring des Nibelungen auseinandersetzt. Ein Mythos ist eine Erzählung, bei dem es um das Handeln von Göttern und Helden geht. Also ein Stoff aus einer vorgeschichtlichen Zeit, in dem sich die Weltdeutung der Menschen ausdrückt. Zudem erhebt der Mythos einen Anspruch auf Geltung für die von ihm behauptete Wahrheit und ist demnach in allen Zeiten gültig.
Natürlich glaubt heute keiner mehr an Zaubertränke, Zwergen, Götter und Drachen. Alles diese Symbole, die im Mythos auftreten, müssen von den Regisseuren unserer Zeit neu gedeutet und in eine uns verständliche Gegenwart transportiert werden. Valentin Schwarz hat sich für die Form der Familien-Saga entschieden. Wotan und sein Clan gehören der Upper-Class an und sind demnach selbsternannte Götter. Schwarz bezieht sich auf Film- und Fernsehserien und knöpft mit seiner Inszenierung direkt an den Paten, an Dallas oder Denver-Clan an. Der Ring, und das ist Schwarz’ ganz persönliche Deutung, sind die Kinder. Und diese Kinder werden missbraucht, traumatisiert und manipuliert, um das Familienerbe weiterzugeben. Bei Schwarz sind Alberich und Wotan Zwillingsbrüder, die sich im Mutterleib bereits genseitig schwere Verletzungen zufügen. Wotan verliert sein Auge, Alberich wird impotent. Aus diesem Urzwist heraus deutet Schwarz den Ring komplett neu, bleibt aber, wenn man ganz genau hinschaut, sehr nahe an Wagners Werk, obwohl der Regisseur neue Figuren hinzuerfindet. Das bleibt an sich alles recht konsequent und nachvollziehbar. Schwieriger wird es allerdings bei der Übersetzung der archetypischen Symbole wie Tarnkappe, Schwert oder Zaubertrank, wo sich Schwarz oft in Details verliert oder einfach unlogische und manchmal unpassende Lösungen findet. Nichtsdestotrotz wurde die diesjährige Premiere bei den Bayreuther Festspielen zu einem großen Theatermoment, der natürlich mit vielen Buhs am Ende der Götterdämmerung regelrecht niedergemacht wurde. Das war nicht berechtigt. Eine Inszenierung kann gefallen oder auch nicht, wenn das Konzept und die Analyse aber stimmen, ist dem Regisseur nichts vorzuwerfen. Und Valentin Schwarz leistet bei diesem Ring mehr als nur ordentliche Arbeit.
Musikalisch waren die vier Opernabende ein Genuss. Dem Bayreuther Festival ist es gelungen, eine Besetzung ohne Fehl und Tadel zusammenzustellen, bei denen die wichtigen Rollen alle optimal besetzt wurden. Tomasz Konieczny war ein überragender Wotan, der an Ausdruck und Gestaltung nicht zu toppen ist, auch wenn er manchmal etwas frei mit der Musik umgeht. Ein Glücksfall war die Brünnhilde von Catherine Foster, die die glücklose Irene Theorin aus dem Jahre 2022 ersetzte. Foster singt diese Rolle schon seit 2013 auf der Bayreuther Bühne und besticht durch ihre intensive Darstellung und ihre schöne, immer leuchtende Stimme. Ihr zur Seite stand Publikumsliebling Klaus Florian Vogt als Siegfried. Er gestaltete die beiden Abende mit nie nachlassender Präzision und Stimmschönheit. Keine falsche Note, kein Forcieren, die Stimme schön, hell und flexibel, so wie man es von ihm seit vielen gewohnt ist. Kein Zweifel. Vogts Siegfried ist ein Wunder. Der Siegmund wurde in diesem Jahr von Michael Spyres gesungen, dessen baritonaler Tenor exakt den Anforderungen entspricht, die für diese Rolle gestellt sind. Ein schönes Legato, ausdrucksstarker Gesang und eine perfekte Phrasierung machen aus ihm eine Idealbesetzung, vorausgesetzt, man mag dieses dunkle Timbre für diese Rolle. Genauso gut war die junge litauische Sopranistin Vida Miknevicute, der leuchtender Sopran an die grandiose Sieglinde der Nadine Secunde im Kupfer-Ring Ende der Achtzigerjahre erinnerte.
Olafur Sigurdarson war der umjubelte Alberich dieses Rings. Sein flexibler und kraftvollere Bariton sowie seine intensive Gestaltung machten aus ihm einen Idealinterpreten für diese Rolle. Und es ging hochkarätig weiter: Georg Zeppenfeld als Hunding, John Daszak als Loge, Mirko Roschkowski als Froh, Christa Mayer als Fricka und Waltraute, Mika Kares als Hunding, Ya-Chung Huang als Mime, Okka von der Damerau als Erda, Nicolas Brownlee als phänomenaler Donner, Christina Nilsson als Freia, Gabriela Scherer als Gutrune, Michael Kupfer-Radecky als Gunther,Jens-Erik Assbo als Fasolt und Tobias Kehrer als Fafner, sie alle machen diesen Ring zu einen gesanglichen Fest. Die Krone gehört aber meines Erachtens der Dirigentin Simone Young, die erstmals in Bayreuth dirigierte, hier allerdings aber schon Daniel Barenboim assistiert hat. Young ist eine geborene Wagner-Dirigentin und das Publikum erlebte an den vier Abenden ein Orchesterspiel, wie es besser, spannender und schöner nicht sein kann. Den Sängern eine ideale und hellhörige Begleiterin und trägt ihr Team wirklich auf Händen.
Auch beim Fliegenden Holländer steht ein Kindheitstrauma im Mittelpunkt. Der kleine H. musste den Selbstmord seiner Mutter, der damaligen Geliebten von Daland, miterleben, nachdem die Mutter von Daland, der Kirche und den Bewohnern der Kleinstadt geächtet wurde. Als Fliegender Holländer kehrt der erwachsene H. zurück um grausame Rache zu nehmen. Regisseurs Dmitri Tcherniakows Inszenierung hat auch im vierten Jahr auf der Bayreuther Bühne nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Und wenn einem Sänger wie Michael Volle (der wegen einer Knieverletzung mit Krücke auftrat) als Holländer, Elisabeth Teige als pubertierende Senta und Georg Zeppenfeld als Daland zur Verfügung standen, dann war ein großartig-intensiver Opernabend garantiert, zumal auch noch Oksana Lyniv am Pult des glänzend disponierten Festspielorchester stand und der Musik so richtig Dampf machte. Eric Cutler sang einen ordentlichen Erik, dem hochgewachsenen Hünen mit der großen Stimme nahm man aber den schwächlichen Charakter des Jägerburschen nicht so richtig ab. Schwach dagegen war Nadine Weissmann als Hausmütterchen Mary und biedere Ehefrau Dalands, deren Mezzospran an keiner Stelle zu leuchten vermochte und deren Stimme ziemlich verbraucht und hohl klang. Der lyrische Tenor von Matthew Newlin als Steuermann war dagegen ein Gewinn für diese kurzweilige und beim Publikum sehr beliebten Produktion.