Opernadaptionen oder Schauspielmusiken zu ‘Hamlet’ gibt es rund 40. Aber keine Opernfassung hat sich wirklich durchgesetzt, bisher. Mit dieser Version des australischen Komponisten Brett Dean, der 15 Jahre als Bratscher bei den Berliner Philharmonikern musizierte, ändert sich das möglicherweise. Dieses sehr intensive Werk wurde in einem jahrelangen Diskussions- und Schaffensprozess zwischen den wesentlichen Beteiligten geschaffen. Dabei gingen sie von einer vielschichtigen Quellenlage aus, da es bereits verschiedene Versionen aus Shakespeares Feder gibt, so dass man eigentlich nicht von der einen Vorlage sprechen kann. Für diese Oper wurde zwar der Originaltext genommen, aber adaptiert. Da er schon beim Rezitieren rund fünf Stunden dauert, in der Oper aber wesentlich länger dauern würde, trafen Komponist und Librettist eine Auswahl auf die für sie wesentlichen Kernpunkte. Außerdem wurde der Text neu geordnet bzw. teilweise auch anderen Personen als in der Vorlage zugeordnet, so dass ein stringenter Erzählstrang entstand.
Weitere Komponenten wurden im Hinblick auf den Uraufführungsort Glyndebourne ausgestaltet. So wurden Teile des Orchesters aus dem Graben auf die Bühne bzw. den Schürboden verpflanzt, um der Raumbegrenztheit im Graben Rechnung zu tragen. Dafür wanderte neben dem Chor auf der Bühne ein achtköpfiger in den Graben. Das im Beiheft abgedruckte Interview mit den Beteiligten gibt detaillierte Einblicke in den Prozess.
Hört und sieht man das Ergebnis, ist dank der eng zusammenarbeitenden Hauptprotagonisten, die alle an einem Strang gezogen haben, ein beeindruckend intensives Werk entstanden. Die Musik von Dean ist durchaus kraftvoll, doch es gelingt ihr trotzdem, den Sängern Freiraum zu lassen. Sein Kompositionsstil zeichnet sich durch Klangflächen, die aus einem Gewebe unterschiedlich rhythmisierter Einzelstimmen entstehen aus. Er gestaltet Extreme, die vom grellen Ausbruch bis zur Unhörbarkeit reichen. Moderne, mitunter auch geräuschhafte Spieltechniken ergänzen das weitgehend klassische Instrumentarium, dass mit groß besetztem Schlagwerk auf der Bühne angereichert ist. Hier ist seine Musik vielschichtig. Sie wird geprägt von langen, klaren Gesangslinien, die von wiederholten rhythmischen Figuren aus dem Orchester angetrieben werden. Dazu kommen Momente zarter Schönheit, etwa wenn die Streicherharmonien um Barbara Hannigans Ophelia tänzeln, als sie zuerst verrückt erscheint und der Refrain flüstert fast so wie sie es singt.
Das ‘London Philharmonic Orchestra’ mit dem in Glyndebourne nach Jahren scheidenden Vladimir Jurowski packt diese Musik an den Wurzeln und führt sie zu einer farbenprächtigen Blüte, die die Sänger bettet. Der Chor des ‘Glyndebourne Festivals’ trägt mit aufmerksamem und ziseliertem Gesang und Agieren zum Gelingen entscheidend bei.
Der nachhaltigste Eindruck dieser Inszenierung ist das außerordentlich hohe Niveau des Schauspiels, das der Regisseur Neil Armfield von den Schauspielern einfordert und erreicht. So können die Emotionen und Beziehungen so klar veranschaulicht werden wie in den besten Schauspielversionen. Dazu gehören etwa die auch im Körperlichen sich ausdrückende Nervosität von Hamlet, der Witz von Guildenstern und Rosencrantz sowie die Steifheit des Königs Claudius.
Die Besetzungsliste weist nur Höhen, keine Tiefen auf. Hamlet ist in nichts ein Kronprinz. Er ist von Anfang an ein ungepflegter und kindischer Außenseiter und bewegt sich ständig nervös mit Knien und Ellbogen. Der Verlust des großen Monologs und vieler anderer Dinge hinterlassen Lücken: So muss er oft über Spott oder Wahnsinn singen, so dass wir etwas von seiner Menschlichkeit verlieren. Das ist etwas, das Deans Musik nicht ganz beherrscht. Doch Allan Clayton bringt seinen Tenor an seine Grenzen, indem er seine Verzweiflung ausdrückt. Und seine langsam brennende Intensität trägt die Tragödie bis zum bitteren, grausigen Ende. Shakespeare bietet Komponisten den Fehdehandschuh; Deans Hamlet stellt sich dieser Herausforderung.
Die vielleicht außergewöhnlichste von allen ist Barbara Hannigan als Ophelia. In ihrer Szene als Verrückte, die zum Kernstück der ganzen Oper wurde, hat sie alles. Stimmlich könnte sie wild schwierige schnelle Spitzen und Sprüngen treffen oder die Stimme in herzerweichende Lyrik glätten. Ihr spektakuläres High-Sopran-Ausziehen ist umso schockierender nach ihrer Haltung und Innerlichkeit der früheren Ophelia. Sie sah jung und schön in der klassischen « English Rose » Form aus. Und ihre Schauspielkunst war überzeugend.
Tomlinson führt eine hervorragende Nebendarsteller-Besetzung. Er ist der erste Spieler, als der er auch den vollen Satz Sein oder nicht sein singt. Er ist auch der Geist des Old Hamlet, eine minotaureske dröhnende Bass-Rolle, die für niemanden sonst geschrieben werden könnte und der pfeifende Totengräber. Sarah Connolly als Gertrude ist in exzellenter Form, sie präsentiert Diademe, Herablassung und knallhartes Furnier.
Rod Gilfry ist der sanfte, aber schuldige Claudius, Kim Begley der Alleskönner Polonius, Jacques Imbrailo ein liebenswerter Horatio. Alle sind blassgesichtig geschminkt, ihre Gesundheit wird durch Jon Clarks Beleuchtung ausgelaugt. Was für Licht Erleichterung gibt, kommt meist in Form von Rosencrantz und Guildenstern, gespielt von Rupert Enticknap und Christopher Lowrey als flapsige Zwilling-Countertenors, diese Gesangslage auch ein Anklang an die Shakespeare Zeit, mit gefrorenem Lächeln. David Butt Philips edler Laertes klingt wie ein Held im Wartestand.