In Warschau ging am Osterwochenende die 28. Ausgabe des Ludwig van Beethoven-Festivals 2024 zu Ende. Entlang von 15 hochkarätig besetzten Konzerten in Nationalphilharmonie, Oper und Schloss präsentierte die Reihe neben Hauptwerken des Namenpatrons und bedeutenden Werken polnischer Provenienz ein breites Repertoirespektrum zwischen Musik von Wagner, Bruckner, Brahms, Puccini, Milhaud, Schnittke oder Adès. Musikpublizist und ICMA-Jury-Member Martin Hoffmeister besuchte ausgewählte Konzerte in der polnischen Metropole und sprach darüber mit Pizzicato.
Herr Hoffmeister, Sie besuchen das Beethoven-Festival nunmehr seit einem Vierteljahrhundert. Was unterscheidet die Reihe von anderen profilierten Festivals auf dem Kontinent?
Zunächst die Tatsache, dass es ausschließlich um Musik, um Kunst geht. Das mag redundant oder paradox klingen, muss allerdings betont werden in Zeiten, in denen zahllose Festival-Veranstalter zunehmend auch auf metamusikalische Angebote setzen. Denken wir an Publikumskreise, die eher den gesellschaftlichen Anlass als die Kunst suchen, an Konzertbesucher, die sich entlang einer Veranstaltungsreihe eher von Landschaften, Hotellerie oder Kulinarik einnehmen lassen und ein Konzert allenfalls als angenehme Unterhaltungsmaßnahme betrachten oder sich der eigenen Kunstsinnigkeit versichern im Spiegel sogenannter großer Namen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wer sich aber unbedingt auf Konzerte und damit verbundene Konnotationen fokussieren möchte, wer ein Ambiente sucht, dass der dargebotenen Musik entspricht, und Reflexionsräume auffächert, der ist in der geschichtsträchtigen Metropole Warschau mit Spielorten wir der Nationalphilharmonie, der Oper oder dem Schloss idealtypisch aufgehoben.
Womit der Rahmen, das Umfeld definiert sind. Worin bestehen ggf. die programmatisch-ästhetischen Unterschiede zu anderen Reihen?
Zur Beantwortung der Frage gehört unbedingt der Hinweis, dass in Ostmitteleuropa, nicht nur in Polen, sondern auch in Rumänien, in der Ukraine, Ungarn, in der Tschechischen Republik, in Kroatien oder den Baltischen Staaten ein anderer Begriff von Kultur vorherrscht. Er ist weniger überlagert von modischer Beliebigkeit, von Auswüchsen des Zeitgeistes oder dekadenter mentaler Verfasstheit. Von einem Konzert etwa erwartet man dort Spielkultur, gestalterische Intelligenz und Handwerk, weniger oberflächliches Geklingel, fragwürdige Präsentationsformen und Namedropping. Das klingt traditionell, manche würden sagen altmodisch, aber es entspricht genau dem, was man erwarten darf von einem seriösen Konzertangebot: Kunst, auf die man sich, fern von Beiwerk, zu konzentrieren vermag. Natürlich hat sich das Rezeptionsverhalten im Zusammenhang mit Musik in den zurückliegenden Jahrzehnten dramatisch verändert, besonders bei den nachwachsenden Generationen. Veranstalter aber, die dem nachgeben und entsprechende programmatische Kompromisse anbieten, desavouieren das Sujet ‚Klassik‘ und machen sich gemein mit den Apologeten der grassierenden Nivellierungs-Aggression. Zumindest in Polen, in Warschau sind solche Entwicklungen nicht wahrzunehmen, was sich spiegelt im breiten und balancierten Besucherspektrum: Kinder und Jugendliche mit deren Familien gehören beim Beethoven-Festival ebenso selbstverständlich zum festen Publikumsstamm wie die Mittelgeneration und Besucher fortgeschrittenen Alters – und das trotz anspruchsvoller, zum Teil komplexer Programmatik.
Wie gestaltet sich diese Programmatik im Zeichen des Festival-Namenspatrons Ludwig van Beethoven konkret?
In seinen Metamorphosen und Entwicklungslinien bietet das Werk Beethovens eine Vielzahl von Bezugs- und Anknüpfungspunkten, zum einen zurück bis in die Barockzeit, zum anderen nach vorne bis in die Klangwelten des 21. Jahrhunderts. Insofern lassen sich mit Beethoven im Gepäck stets aufs Neue aufgeladene programmatische Spannungsfelder generieren. Nicht selten wird man gefragt, warum Beethoven als Namenspatron für ein polnisches Festival und nicht etwa Chopin, Szymanowski, Lutoslawski oder Penderecki. Die Antwort liegt, wie angedeutet, in Beethovens avanciertem Werke- Kosmos und dessen, aus heutiger Perspektive, Mittelpunktstellung in der Musikgeschichte. Für die Programmierung des Festivals bedeutet das: Bekannte – und schlüssigerweise auch selten aufgeführte – Werke des Komponisten bilden den dramaturgischen Ausgangspunkt für sinnfällige Kopplungen mit klanglich, stilistisch oder konzeptuell passfähigen Werken aus 400 Jahren Musikgeschichte. So trafen 2024 gelegentlich eines Solo-Rezitals des Pianisten Louis Lortie beispielsweise Beethoven-Variationen auf entsprechende Werke Mendelssohns, Faures und Thomas Ades‘. Oder beim Abend mit dem Bergen Philharmonic Youth Orchestra unter Lawrence Foster und Solist Yamen Saadi Hindemiths ‘Geschwindmarsch by Beethoven‘ auf Pendereckis 1. Violinkonzert und Brahms 1. Symphonie. Solch‘ inspirierende Nachbarschaften generieren Überraschungseffekte, Kurzweil und nachhaltige Erkenntnis. In der angelsächsischen Welt würde man angesichts dieser Programmatik von Sophistication sprechen.
Das gilt ebenfalls für den Konzertabend mit dem NFM Leopoldinum Orchestra aus Wroclaw, das unter der Leitung des Geigers Alexander Sitkovetsky Werke von Mozart (Divertimento KV 251), Andrzej Panufnik (Violinkonzert), Alfred Schnittke (Moz-Art a la Haydn) und Haydns Sinfonie Hob I:22 gegenüberstellte und damit heterogenste Stilistiken und versteckte Korrespondenzen konsistent verhandelte. Das Orchester agierte ungemein beweglich entlang der weitgefächerten klanglichen und spieltechnischen Anforderungen. Bei Mozart und Haydn wähnte man sich, einem Konzert einer der führenden Alte-Musik-Formationen beizuwohnen: Hohe Luziditätswerte, Transparenz standen im Verein mit fein abgeschmeckten dynamischen Schattierungen, energetischer Hochspannung und nuancierter Kolorierung. Schnittkes, von Polystilistik, improvisatorischen und parodistischen Elementen getragene freischwebende Klanghalluzination mit enormen technischen Herausforderungen wurde das Ensemble ebenso gerecht wie Panufniks selten aufgeführtem Violinkonzert von 1971, das spirituelle Einlassungen amalgamiert mit lodernder Unbedingtheit, das weite Bögen zeichnet ebenso mit Klangverdichtungen spielt. Ein solitärer Konzertabend getragen von eminenter Geigenkunst, programmatischer Raffinesse und spieltechnischer Überlegenheit eines Ensembles, das auch außerhalb Polens mehr Aufmerksamkeit finden sollte. Ein weiteres Beispiel für die bemerkenswerte wie originäre Programmgestaltung bot das Abschlusskonzert der Reihe mit Faures Requiem, und den Stabat Mater von Penderecki und Poulenc. Am Pult der Warschauer Philharmoniker und dem Chor der Warschauer Philharmonie zelebrierte Chefdirigent Andrzej Boreyko einen vielgesichtigen wie klangsensualistischen Vokalkosmos als introspektives Korrektiv zu aufgeladenen Weltläuften.
Wesentlich für Akzeptanz und Erfolg eines Festivals sind über die spezifische Programmatik hinaus ebenso die gastierenden Solisten, Dirigenten, Ensembles, Orchester, Kammermusik-Formationen und Sängerinnen-Tableaus. Welche Ideen verfolgt das Festivalteam um Direktorin Elzbieta Penderecka bei der Auswahl der Künstler und Ensembles ?
In den meisten Fällen entscheiden sich diese Fragen auf Grund der zur Verfügung stehenden Etats. Finanziell opulent aufgestellte Reihen neigen zur Priorisierung prominenter Namen, andere mit geringeren Etats sind gezwungen, kreativer mit den Künstlertableaus umzugehen. Was aus meiner Sicht kein Problem darstellt, da Veranstalter in diesen Tagen zurückgreifen können auf eine eminente Zahl hochkarätiger, aber unbekannter Musiker und Ensembles und überdies verstärkt profilierten Nachwuchs einbinden können. Eine Vorgehensweise, die im übrigen allen Seiten hilft.
Beim Beethoven-Festival erkenne ich seit Jahren eine Tendenz zu ausgeglichenen Künstlertableaus, was für die diesjährige Festival-Ausgabe bedeutet: Gebucht wurden bekannte Namen wie Lawrence Foster, Andrzej Boreyko, Leopold Hager, Beatrice Rana, Louis Lortie, Barry Douglas, Claudio Bohorquez, Arabella Steinbacher, Alexander Sitkovetsky oder die Luxemburger Philharmoniker, aber zudem erstklassige, weniger im Rampenlicht stehende Künstler wie die Dirigenten Maciej Tworek oder Jurek Dybal, die ‚Wiener Kammersymphonie‘, das NFM Leopoldinum Orchestra, das Bergen Philharmonic Youth Orchestra oder der unlängst zum Konzertmeister der Wiener Philharmoniker gekürte Geiger Yamen Saadi. Wer das Beethoven-Festival regelmäßig besucht, erlebt nicht nur außergewöhnliche Überraschungen und lernt zahllose aufstrebende Talente kennen, sondern erfährt auf erhellende Weise, dass man mit dem Nachwuchs rechnen und Unbekanntheit als Chance fungieren kann.
In den vergangenen Jahren war beim Festival eine deutlich gestiegene Anzahl polnischer Musiker und Ensembles zu konstatieren. Blieb es 2024 bei dieser Tendenz?
Solche Zahlen oder Mischverhältnisse sind bekanntlich volatil. Sie sind abhängig von wechselnden staatlichen und kommunalen Subventionspotentialen, von politischen Verhältnissen und Wendungen, von ästhetisch- programmatischen Aspekten und den Vorstellungen des handelnden Personals. Tatsächlich half es in indifferenten Zeiten wie der Pandemiephase, auf die künstlerischen Potentiale vor Ort zurückzugreifen. Anderseits gilt es für Festivals zunehmend, ökologische Aspekte zu berücksichtigen. Warum also beispielsweise Orchester aus fernen Weltgegenden buchen, wenn ein Land selbst über eine reiche Orchester- und Ensemble-Landschaft verfügt. Im Übrigen: Auch aus Perspektive der Festivalbesucher dürfte es durchaus von Interesse sein, einen Rundumblick auf die künstlerische Expertise einer Nation zu bekommen. Austauschbarkeit von Programmen und Künstlern definiert bereits die Regel in anderen bekannten Festival-Hochburgen. Insofern begrüße ich ein balanciertes, nach künstlerischen Kriterien etabliertes Verhältnis zwischen heimischen und auswärtigen Festivalgästen. Und auch was das Schaffen polnischer Komponisten angeht, das in Warschau abgebildet wird, gilt es, die grundsätzlichen Vorstellungen der Reihe zu unterstützen. Denn ein Blick auf die Konzertagenda vieler mitteleuropäischer Veranstalter offenbart deutliche Desiderate in Sachen Repertoire polnischer Provenienz.
Klassik, Kultur im Allgemeinen, nimmt einen zentralen Platz in der DNA der polnischen Gesellschaft ein. Man kennt und schätzt seine Heroen über die Generationen hinweg. Wie wurden die Konzerte vom Publikum angenommen?
Zumeist enthusiastisch ! Und seitens einer breitgefächerten Klientel. Denn punktgenaue Anknüpfungspunkte für wechselnde Publikumskreise waren tariert gesetzt. So traf Beethovens Violinkonzert in der fein gezeichneten Lesart Arabella Steinbachers ebenso auf Emphase wie etwa Darius Milhauds selten aufgeführter Opern-Dreiakter Salade oder Leopold Hagers der Kontur und Transzendenz verpflichtete Exegese von Bruckners 7. Symphonie. Im Kammermusik-Segment nahm das kurzfristig für das ‚Guarneri Trio Prag‘ eingesprungene Boulanger Trio entlang von ausgewählten Beethoven-Trios mit eminentem Interplay, idealtypischer Spielkultur und makellosem Handwerk ein. Unterm Strich präsentierte sich die Reihe wie in den Vorjahren als Garant für Innovation, Überraschungen, bemerkenswerte künstlerische Niveaus und originäre programmatische Konzepte. Und wie in den zurückliegenden Jahren wurde das Festival abgerundet durch ein hochkarätig besetztes musikwissenschaftliches Symposium und eine Ausstellung mit Beethoven-Autographen in der Krakauer ‚Jagiellonen Bibliothek‘.