Das ‘hr-Sinfonieorchester’ eroberte die Philharmonie in Warschau am Samstagabend im Sturm seiner Orchesterklänge, mit auftrumpfende Romantik in Mendelssohns Violinkonzert und Klangekstase in Mahlers Fünfter Symphonie.
Der junge 21-jährige österreichisch-armenische Geiger Emmanuel Tjeknavorian war der Solist in Mendelssohns Opus 64 und begeisterte mit einem brillanten und schwungvollen Spiel, im
langsamen Satz auch zart und poetisch. Ein kraftvoller Bogen erlaubte es dem Geiger, im romantisch ausschwingenden Orchesterklang die Oberhand zu behalten und sich mit persönlichen Farben vom Orchester abzuheben, das von Andrés Orozco-Estrada schön differenzierend, elegant und flüssig geleitet wurde. Dennoch stellte sich am Ende die Frage, ob man Mendelssohn heute noch mit einem so groß besetzten Orchester spielen sollte? Ich tendiere dazu, sie zu verneinen.
Das zweite Werk auf dem Programm war Gustav Mahlers 5.Symphonie. Orozco-Estrada legte sie ganz auf Klangopulenz an. Er ließ sich den von Möglichkeiten der Partitur berauschen und trieb das ‘hr-sinfonieorchester’ zu einem grandiosen Spiel an. Im ersten Satz faszinierten die Streicher mit ungemein viel Brillanz und Glanz, im zweiten zeigten die Musiker aus Frankfurt eine spannende Virtuosität. Auch im dritten Satz wurde das Konzept der Klangmacht in Mahlers Musik voll durchgesetzt, während das Adagietto eher zart formuliert wurde und mit seinen 11 Minuten mehr von ‘Tod in Venedig’ hatte als von einem Liebesbrief an Alma. Das Finale war dann der vielleicht noch am differenziertesten dirigierte Satz, der aber am Ende wieder zu großer Klangpracht aufrauschte und das Publikum in der Warschauer Philharmonie zu Begeisterungsstürmen hinriss.
Atem, Tiefe, Brüche und grimassierenden Kontraste, all das fehlte jedoch in dieser Interpretation. Sicher, Mahlers Musik verträgt vieles, sie konnte auch die Werksicht von Orozco-Estrada vertragen und in der Klangekstase eine unzweifelhaft grandiose Wirkung erzielen, nicht zuletzt wegen der herausragenden Qualität des Orchesters. Dennoch muss ich auch bei diesem Werk eine Frage stellen. Mahler sagte einmal: « Meine Zeit wird kommen ». Angesichts heutiger Interpretationsansätze frage ich mich, ob sie nicht schon wieder vorbei ist. Remy Franck (zurzeit Warchau)