In Warschau endete am vergangenen Osterwochenende die 23. Ausgabe des Beethoven-Festivals. Zwei Wochen lang präsentierten sich in 20 Konzerten Orchester, Solisten, Dirigenten Kammermusik-Ensembles und Chöre aus aller Welt. Gerahmt wurde die Reihe von einem musikwissenschaftlichen Symposium, einer Beethoven-Autographen-Schau in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek und zahlreichen externen Konzerten in anderen polnischen Metropolen. Im Gespräch mit Pizzicato resümiert Musikpublizist und ICMA-Jury- Mitglied Martin Hoffmeister das Geschehen.
Herr Hoffmeister, die Zahl bemerkenswerter Klassik-Festivals nimmt weltweit, insbesondere in Europa, Jahr für Jahr zu. Viele dieser Reihen firmieren unter dem Namen eines Komponisten. Dass beispielsweise in Leipzig ein Bachfest, in Bonn ein Beethovenfest oder in Halle Händel-Festspiele über die Bühne gehen, wird jedem unmittelbar einleuchten. Wie aber kommt ein polnisches Festival zum Namenspatron Beethoven?
Wenn es um visionäre, konsistente Festivalprogrammatik geht, sollte man grundsätzlich nicht schematisch operieren oder in festgefügten Kategorien denken. Natürlich kann ein Beethoven-Festival grundsätzlich in fast jeder Weltmetropole sinnfällig funktionieren, nicht nur in Bonn oder Wien. Natürlich sind dabei Regeln zu beachten. Marketing, logistische Voraussetzungen, Finanzpotentiale, die Qualität der Spielstätten und die Publikumsstrukturen müssen stimmen bzw. passfähig sein. Und wenn auf die beschriebenen Rahmenbedingungen dann auch ein elaboriertes programmatisches Tableau trifft, sollte dem Erfolg eines Festivals nichts mehr im Wege stehen.
Vor welchem Hintergrund hat sich Festivaldirektorin Elzbieta Penderecka für Beethoven als Namensgeber der Reihe entschieden?
Dabei kamen mehrere Gründe zum Tragen: Beethoven gehört zu den zugkräftigsten Namen der Musikgeschichte. Sein Werk ist numerisch opulent, umfasst sämtliche musikalischen Gattungen und enthält wegweisende stilbildende Zyklen wie die Klaviersonaten, Streichquartette oder Sinfonien. Hinzu kommt, dass man ausgehend von Beethovens Oeuvre spannungsreiche, sinnfällige und inspirierende Linien ziehen kann auf der einen Seite zurück bis zur Barockmusik, auf der anderen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das gibt Beethovens Werk her, weil es selbst diese Bezüge, offen oder verdeckt, in sich trägt. Beethoven gehörte zu den großen Neuerern der Historie, er war stets Avantgarde, wollte sich immer entwickeln und ungehörte Klang- und Formsprachen kreieren. Damit hat er, aus heutiger Perspektive, nicht nur das Tor zur Romantik aufgestoßen, sondern auch zahllose Ideen und Blaupausen für Komponisten dieser Tage geliefert. Insofern heißt, ein Festival im Namen Beethovens zu unterhalten immer auch, alles Wesentliche in Sachen Klassik im Blick zu behalten. Dramaturgisch und programmatisch lässt sich mit Beethovens Musik entsprechend optimal arbeiten. Für ein Festival und seine Außenwirkung nicht unerheblich ist darüber hinaus natürlich die Tatsache, dass Beethoven und sein Werk dezidiert für Völkerverständigung und nationenübergreifenden Austausch stehen. Beethoven war, noch bevor man in solchen Kategorien dachte, immer ein überzeugter Europäer. Mit dieser Botschaft im Gepäck ist die Warschauer Veranstaltung ein zeitgemäßes Festival ideell, politisch und gesellschaftlich ideal aufgestellt.
Hinweise zu den programmatischen Bezugspunkten rund um Beethovens Werk geben alljährlich auch die Festivalüberschriften. Der Jahrgang 2019 stand unter dem Motto ‘Beethoven und die Lieder des Romantizismus‘…
…ein perfekter Kunstgriff, denn mit diesem Titel wird unmissverständlich klargestellt, dass es nicht nur um unmittelbare Wechselwirkungen und Bezüge Beethovens zur musikalischen Romantik geht, sondern eben auch zur Idee der Romantik, die natürlich, gebrochen oder ungebrochen, auch gespiegelt wird im Werk nachfolgender Komponisten-Generationen. Für das diesjährige programmatische Tableau des Festivals bedeutete das konkret, dass nicht nur Naheliegendes wie Schuberts Winterreise oder Schumanns Dichterliebe zur Aufführung gelangten, sondern beispielsweise auch Bergs Altenberg Lieder oder Pendereckis 8. Sinfonie mit dem Untertitel Lieder der Vergänglichkeit. Und dass das Festival immer auch für Repertoire-Entdeckungen und selten gespielte Werke steht, zeigten exemplarisch zudem die Abende mit Mussorgskis Lieder und Tänze des Todes in der Orchestrierung von Shostakovich, den Nuits d’été von Berlioz oder Liedern von Mieczyslaw Karlowicz.
Sie besuchen das Festival regelmäßig seit über zwei Jahrzehnten. Wie möchten Sie Geist und zentrale Idee der Reihe beschreiben?
Nach über 20 Jahren bleibt zu konstatieren: Das Modell ‘Beethoven plus’ geht auf und trägt. Wer sich als Besucher über lange Zeit auf diese programmatische Struktur eingelassen hat, trägt Jahr für Jahr neue, zum Teil unerwartete Erkenntnisse über Wirkmächtigkeit, Fallstricke, interpretatorische Herausforderungen, Vielschichtigkeit und Substanz des Beethoven’schen Oeuvres mit zurück nach Hause. Das sind Erkenntnisse, die man allein aus der spezifischen Festival-Situation und der entsprechenden Dauer-Live-Beethoven-Rezeption generieren kann. Entscheidend in diesem Kontext für das Publikum ist ebenso die Erfahrung der eminenten Deutungsdimensionen, die dieses Werk in seiner Vielfalt und Komplexität bereithält. Welchen Blick etwa haben Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich auf eine Beethoven-Sinfonie im Gegensatz zu Susanna Mälkki und dem Helsinki Philharmonic Orchestra. Wie lesen hochbegabte Nachwuchsmusiker und Preisträger wie Szymon Nehring oder Yuton Sun Beethovens Konzerte im Vergleich zu gesetzten Exegeten wie Rudolf Buchbinder? Andere Fragen – und Antworten – schließen sich an: Warum spielt mit dem ‘Shanghai Quartet’ ein chinesisches Streichquartett eine führende Rolle in der globalen Beethoven-Interpretation, was verbindet Shostakovich, Mahler und Strauss mit Beethoven? Fragen nach künstlerischen Nachbarschaften und Korrespondenzen fungieren in Warschau als konstitutive Größe. Als zentrale programmatische Idee über einzelnen Konzerten wie der Reihe als Ganzes steht der Geist der Offenheit und des Austausches.
Im Sinne Beethovens könnte man vom Geist der Begegnung sprechen?
Richtig. Es geht um Begegnungen in vielfacher Weise. Da treffen unterschiedlichste polnische Ensembles, Orchester und Künstler aufeinander. Die wiederum messen sich mit Formationen und Musikern aus aller Welt. Da treffen Musiker-Generationen aufeinander wie etwa die Nachwuchsschmiede Santander Orchestra und das Polnische Nationale Radio Sinfonieorchester aus Katowice. Da stehen sich Mentalitäten gegenüber wie das koreanische KBS Symphony Orchestra und die Dresdner Philharmonie, schließlich bekannte Klassik-Größen wie Christian Gerhaher, Beatrice Rana oder Lawrence Foster und unbekannte hochbegabte Musiker und Dirigenten. Wer nach Warschau reist, bekommt das ganze Bild. Kein Festival kann gänzlich auf Mainstream-Inhalte und prominente Namen verzichten. Das Beethoven-Festival aber geht mit seinen Programmen und Künstlertableaus in die Tiefe und beweist sowohl Forscher- wie Entdecker-Qualitäten.
Rund 20 Konzerte in Warschau bildeten den Kern der diesjährigen Festival-Ausgabe. Welche Höhepunkte konnten Sie ausmachen?
Gleich der Eröffnungstag brachte zwei unvergessliche Konzerte mit Gerhahers/Hubers Winterreise und Stéphanie d’Oustracs Lesart von Berlioz‘ Nuits d’été. Im Kammermusiksegment bemerkenswert und tiefschürfend war insbesondere die Streichquartett-Exegesen des Shanghai Quartet und der Beethoven-Rachmaninov-Debussy-Nachmittag mit dem neu gegründeten Penderecki Piano Trio. Getragen von Sophistikation und filigranem Zugriff war das Konzert des Nationalen Polnischen Radiosinfonie Orchesters unter Alexander Liebreich mit Werken von Berg, Mahler und Zemlinsky und der Abend mit Rudolf Buchbinder, Paavo Järvi und dem Tonhalle Orchester Zürich, in dem Messiaens L’Ascension, Beethovens 4. Symphonie und sein 3. Klavierkonzert gegenübergestellt wurden.
Welche Konzerte entsprachen den Erwartungen weniger?
Zumindest irritierend was die Substanz des Materials angeht, präsentierte sich Moniuszkos Oper Paria. Seit Jahren schon zeigt das Festival mit viel Erfolg unbekannte, selten oder nie zuvor aufgeführte Opern. Im Jubiläumsjahr, zum200. Geburtstag des Komponisten lag es nahe, eines dessen Werke auf die Bühne zu bringen.Allerdings muss ich bekennen, dass ich selten uninteressantere, unelegantere, ideenlosere und unbeseeltere Musik gehört habe. Aber selbst diese Erfahrung steht natürlich für Erkenntnis.
In den Tagen um Ostern halten die europäischen Bühnen einige Konkurrenzveranstaltungen bereit. Denken wir an die populären Salzburger Osterfestspiele oder das Osterfestival in Luzern. Welche Publika finden sich alljährlich in Warschau ein?
Als größte polnische Metropole mit breitem bildungsbürgerlichen Hintergrund verfügt Warschau natürlich über ausreichend interessierte Publikumsschichten. Über die Jahre ist es dem Festival zudem gelungen, sukzessiv mehr Besucher aus aller Welt zu gewinnen, sodass mittlerweile Gäste aus Japan, Korea und China sich ebenso in Warschau einfinden wie Besucher aus den USA und zahlreichen anderen europäischen Ländern. Es hat sich herumgesprochen, dass dieses Festival nicht nur mit erlesenen Künstler- und Programmtableaus für sich einzunehmen versteht, sondern auch atmosphärisch für Inspiration steht.