In Warschau ging vor kurzem das ‘Ludwig-von-Beethoven-Oster-Festival‘ (02.04.-14.04.) zu Ende. Trotz reduziertem Finanz-Volumen konnte die wichtigste Konzertreihe Polens ihr ambitioniertes Profil konsolidieren und neue programmatische Akzente setzen. Zur 21. Festival-Ausgabe unter dem Motto „Beethoven and the fine Arts“ sprach Pizzicato mit dem Musikpublizisten und ICMA-Jury-Mitglied Martin Hoffmeister.
Herr Hoffmeister, Europa erlebt in diesen Jahren einen regelrechten Festival-Boom. Kaum eine Metropole, die nicht ihre eigenen Klassik-Reihen zelebriert, kaum eine touristisch interessante Region, die auf entsprechende Angebote verzichtet. Mit Klassik kann man offensichtlich punkten…
Klassik IST der Punkt. In ihren unterschiedlichen Ausformungen, in ihren Stilen, Gattungen und Genres ist sie Spiegel und zugleich Träger einer diffizilen, komplexen kultur-geschichtlichen DNA. Klassik gehört zur urbanen Existenz wie der Restaurantbesuch. In den bevorzugten ländlichen Erholungs-Räumen rundet sie touristische Angebots-Tableaus ab. Und: Wer mit Klassik lebt, schätzt in der Regel auch andere Künste, ist generell vielseitig interessiert und verfügt über eine gewisse Kaufkraft. Wer also Klassik auf die Bühnen bringt, profitiert umfassend davon. Er steigert die Lebensqualität und etabliert eine kulturell aufgeladene Atmosphäre, an der viele teilhaben möchten.
Wenn das Stichwort ‘Festival’ fällt, denken die meisten immer noch vor allem an einschlägige Namen wie ‘Salzburger Festspiele’, ‘Lucerne Festival’, ‘Schleswig-Holstein-Musikfestival’ und an Orte wie Bayreuth, Gstaad, Verbier, Glyndebourne oder Aix-en-Provence. Haben die hochkarätigen Festivals in Ostmitteleuropa, in Polen etwa ein Marketing-Problem?
Nicht die Festivals im Speziellen. Vielmehr existiert in den west- und mitteleuropäischen Ländern noch immer ein extremes Aufmerksamkeits-Defizit, wenn es beispielsweise um die enormen Potenziale der polnischen Kultur, im Besonderen der Musik geht. Man könnte auch von Ignoranz sprechen. Gerade im Falle von Klassik und Jazz leistet Polen Paradigmatisches. Denken wir etwa an die zahlreichen Konzerthaus-Neubauten, an die vielgesichtige Orchesterlandschaft, die Musikausbildung, die Wettbewerbe und Festivals. Von den Komponisten-Legenden, die die Nation im 19., 20. und 21. Jahrhundert hervorgebracht hat, ganz zu schweigen.
Welchen Stellenwert für die polnische Kultur- und Musikszene hat eine Reihe wie das ‘Ludwig-van-Beethoven-Osterfestival’?
Das Festival gehört ohne Frage zu den wichtigsten seiner Art in Polen und Europa. Aus gesellschaftspolitischen Gründen, weil es integrierend wirkt, indem es Besucher und Journalisten aus ganz Europa und Übersee in die Metropole zieht und zu internationalem Austausch einlädt, kulturell, weil es einen kontinuierlichen Höhepunkt innerhalb der polnischen Szene markiert, künstlerisch, weil Niveau und Programmatik seit über zwei Jahrzehnten Alleinstellungsmerkmale generieren.
Die Programmatik des Festivals scheint deutlich vom Werk seines Namenspatrons, Ludwig von Beethoven, geprägt zu sein. Trägt das Konzept über die Jahre?
Zweifellos steht das Werk Beethovens im Zentrum der Veranstaltungsreihe. Programmatisch allerdings eröffnet die Wahl dieses Festival-Protagonisten Direktorin Elzbieta Penderecka zahllose dramaturgische Optionen. Denn die, aus heutiger Perspektive, musikgeschichtliche Mittelpunktstellung des Komponisten erlaubt sinnstiftende wie Erkenntnis zeitigende programmatische Exkursionen zu anderen Komponisten und anderen Epochen vor und nach Beethoven. Insofern ist für inspirierende Spannungsfelder gesorgt. Andererseits ermöglicht die Fokussierung auf den komplexen und heterogenen Werke-Kosmos Beethovens eine einzigartige Tiefenschau und analytisch- systematische Interpretationsvergleiche.
Der Blick auf die europäische Festivalszene zeigt viel Einerlei, nivellierte Künstler-Tableaus und konzeptionelle Austauschbarkeit. Worin unterscheidet sich die Warschauer Reihe?
In einer ganzen Reihe von Aspekten. Zunächst ist es, wie gesagt, überaus anregend, in zwei Wochen eine repräsentative Werkschau eines Komponisten zu erhalten. Davon profitiert eigentlich jeder Besucher, denn man kann über die Jahre oder auch während eines Festivaljahrgangs nicht nur kompositorische Metamorphosen eines stilbildenden Komponisten nachvollziehen, sondern die einzelnen Werke außerdem in unterschiedlichen oder gegensätzlichen Lesarten studieren. Gleichermaßen interessant stellt sich die Auswahl der beim Festival gastierenden Dirigenten, Solisten, Ensembles und Orchester dar: Ein balanciertes Tableau zwischen großen Namen und vielversprechendem Nachwuchs, nationalen und internationalen Gästen. Unbedingt Erwähnung finden sollten auch Meta-Angebote wie die all-jährlichen Autographen-Ausstellungen und musik- wissenschaftlichen Symposien oder die Satelliten-Konzerte des Festivals in anderen polnischen Metropolen.
Polen verfügt über eine ausgesprochen reiche Orchesterlandschaft, zahllose renommierte Dirigenten und Musiker. Kommt dieses Potential beim Festival zum Tragen?
Selbstverständlich gehört die Abbildung der nationalen Musikszene zu den konstitutiven Säulen des Festivals. Als interessierter Besucher erwartet man das auch. Wenn man nach Polen reist, will man auch in ein spezifisch kulturelles Umfeld eintauchen, man möchte wissen, was das Land gegen über anderen Kultur-Nationen zu bieten hat. Da spielt auch die Suche nach Authentizität eine entscheidende Rolle. Und gerade in Bezug auf Polens Orchester-Landschaft gibt es eine Vielzahl von Klangfarben zu entdecken, zumal eine überraschende Spielkultur auch bei Ensembles aus kleineren Städten. Gleiches betrifft auch die polnische Dirigenten-, vor allem aber die Pianisten- Liga mit Persönlichkeiten wie Krystian Zimmerman, Piotr Anderszewski, Konrad Skolarski, Lukas Krupinski, Szymon Nehring und vielen mehr, die mit enorm ausgereiften Exegesen und handwerklicher Extravaganz für sich einzunehmen vermögen…
…womit dann auch ein wohltariertes Gegenüber kreiert wird von musikalischen Leuchttürmen der polnischen Szene und anderen geladenen Gästen aus aller Welt…
…richtig. Und auch bei den Gastspielen internationaler Orchester, Solisten und Dirigenten wusste sich Elzbieta Penderecka stets jenseits des Festival-Mainstreams zu positionieren. Ich erinnere mich an eindrückliche Konzerte beispielsweise des ‘Royal Philharmonic Orchestra’, des ‘Rotterdam Philharmonic Orchestra’, des Orchesters ‘Wiener Akademie’, des ‘Singapore Symphony Orchestra’, ‘St. Petersburg Philharmonic’, des ‘Orchestra of Mariinski Theatre’ oder ‘China Philharmonic Orchestra’. Eine besondere Beziehung pflegt das Festival darüber hinaus traditionell zu deutschen Ensembles wie etwa einigen ARD-Rundfunkorchestern, ‘Deutsches Sinfonieorchester Berlin’ oder ‘Münchner Philharmoniker’.
Welche Höhepunkte konnten Sie beim aktuellen Festival-Jahrgang ausmachen?
Zunächst einmal scheint mir die Existenz des Festivals selbst ein Höhepunkt der Agenda zu sein, denn ich kenne kein zweites, vergleichbar perfekt organisiertes und administriertes europäisches Festival, das zudem mit kontinuierlich konsistenter Programmatik und originärem Künstler-Tableau aufwartet. Das ist keine Selbstverständlichkeit in Zeiten wechselnder finanzieller Untersetzung, zumal einem ohnehin, im Vergleich zu anderen europäischen Reihen, geringen Etat. Hinzu kommt die spezifische Gesamt-Atmosphäre des Festivals, die bestimmt wird nicht nur von einnehmender Musikdarbietung, sondern auch von inspirierendem Austausch und Kommunikation mit anderen Besuchern aus aller Welt. Beethoven, der sein Werk tief im Humanismus verankert sah und zeitlebens für nationenüber- greifende Verständigung plädierte, hätte das gefallen. Wenn man eine Handvoll musikalischer Highlights benennen möchte, dann gewiss die beiden Abende mit dem ‘Nationalen Polnischen Rundfunkorchester Kattowitz’ unter Alexander Liebreich und Lawrence Foster, Elena Bashkirovas Exegese von Beethovens 3. Klavierkonzert, Anika Vavics und Tamas Palfalvis Lesart von Shostakovichs Konzert für Klavier, Trompete und Orchester an der Seite der ‘Symphony Orchestra of the Feliks Nowowiejski Warmia and Mazury Philharmonic’ oder das Gastspiel des ‘Staatlichen Armenischen Jugendorchesters’ unter Sergey Smbatyan u.a. mit Rimsky-Korsakovs ‘Scheherazade’.