Im Jahr 2019 hat das Berliner Kuss Quartett alle Beethoven-Streichquartette in der Suntory Hall in Tokio aufgeführt und aufgenommen. Gespielt wurde auf dem sogenannten Paganini Stradivarius-Set, das sich im Besitz der Nippon Music Foundation befindet – ein Set mit zwei Geigen, Bratsche und Cello aus Stradivaris Werkstatt in Cremona zu Beginn des 19. Jahrhunderts, das von Paganini selbst für sein Streichquartett ausgewählt wurde. Das Tokyo String Quartet verwendete diese Instrumente fast 15 Jahre lang, aber heute nicht mehr. Das Kuss Quartett konnte die Instrumente für diese Konzerte in Tokio benutzen. Das mag zu einem nicht unbedeutenden Charakteristikum geworden zu sein, denn es entsteht hier der Eindruck, dass die einzelnen Stimmen individueller geworden sind, das Ensemble damit vielleicht weniger homogen im Klang ist, aber viel charakteristischer und einzeln wahrnehmbar. Das wiederum führt zu einem reicheren und viel eloquenteren, konzertanteren Spiel, das die Kuss-Interpretationen deutlich von anderen abhebt, die vielleicht eleganter, ausgewogener und architektonisch konzipiert sind, mit einem besseren Gleichgewicht von Ausdruck und Formkraft, nicht zu sprechen von den sachlicheren Aufführungen, die es auch gibt. Beim Kuss Quartett dominiert in einer phänomenalen Spontaneität das Rhetorische, das jeden Satz ohne auch nur eine flaue Passage eindringlich werden lässt.
Die frühen Quartette strotzen in den schnellen Sätzen von unbekümmerter Vitalität, oft herrlich musikantisch und sogar humorvoll, während die langsamen Sätze ergreifend intensiv und intimistisch gespielt werden, so dass man immer wieder den Atem anhält und staunend den Gesprächen der vier Musiker zuhört. Da werden viele menschliche und seelische Seiten Beethovens berührt. Das kann manchmal auch grell klingen oder tänzerisch übermütig, tief ins Innere versenkt und stockend.
Auch in den mittleren Quartetten bleibt diese Rhetorik das prägende Merkmal der Kuss-Interpretationen. Die Diskussionen sind nie Small Talk, nie vordergründig, tauschen keine banalen Nachrichten aus, sondern drehen sich um Essentielles
Besonders gefällt mir, dass es in dieser Rhetorik nichts Aufgesetztes gibt, keine grotesk übertrieben Gesten, keine störenden Akzentuierungen, keine penetrante Rhythmik… Sprechen, zuhören, kommentieren, sehr zivilisiert und flexibel, aber immer intensiv. Auch hier keine fade Minute!
Den ‘seriöseren’ späten Quartetten bleiben die Kuss-Musiker nichts schuldig an Ausdruckskraft. Die Kontraste zwischen Dramatik der schnellen und den Meditationsübungen der langsamen Sätze sind enorm, dienen aber letztlich nur der wohl funktionierenden Kombination von Energie, Emotion und Emphase.
Mit so vielen schönen, wunderbaren und erlebnisreichen Momenten, mit einem durchgehend so aufregend spannenden Spiel kann man sagen, dass in diesen Interpretationen der Beethoven-Quartette nichts unausgesprochen bleibt. Das Kuss Quartett setzt sich vom ersten bis zum letzten Takt dem Wechselbad der Gefühle in den Quartetten aus und bewahrt sich aber auch jenes Maß an analytischer Souveränität, die zu einer bewussten Darstellung unerlässlich ist.
Zu diesem Eindruck trägt auch die Tonaufnahme bei, die trotz Publikum im Saal quasi ohne Nebengeräusche auskommt und klanglich ungemein natürlich und von optimaler Räumlichkeit ist, nicht zu trocken, nicht hallig. Und so wird man nicht satt diesen Beethoven-Interpretationen zuzuhören, vieles zu entdecken, was einem bislang so nicht ‘gesagt’ wurde. Ja, ich erkläre diese Gesamteinspielung, weil sie mich mehr anspricht als alle anderen, die in meinen Regalen stehen, als meine liebste.
Ein Wort noch zu der modernen Zugabe, dem 12 Minuten langen Stück Beethoveniana von Bruno Mantovani. Der Franzose nimmt Motive aus den Beethoven-Quartetten und kleidet sie modern, nicht zu modern, so dass das Ohr an dem Stück doch Spaß haben kann, nicht zuletzt weil es Freude macht, das hoch virtuose Spiel des Kuss Quartetts zu erleben.