Anlässlich der Veröffentlichung ihrer neuesten CD-Produktion (Pizzicato-Rezension) hat René Brinckmann sich mit ihr unterhalten.
Frau Levin, wenn man sich Ihre Biografie ansieht, fällt als erstes auf, dass Sie von sehr, sehr renommierten Professoren ausgebildet worden sind: Marian Filar, Leonard Shure und Rudolf Serkin. Ich stelle mir vor, dass diese drei Pianisten, die zu Beginn Ihres Studiums bereits große Berühmtheiten waren, nicht sehr oft neue Studenten aufgenommen haben und deshalb wahrscheinlich ziemlich ‘belagert’ wurden. Wie hatten Sie also das Glück, mit allen drei Erfahrungen sammeln zu können?
Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich meine Mutter mit in das Studio von Herrn Filar an der Settlement Music School in Philadelphia, wo ich dann vorgespielt habe. Vom ersten Moment an behandelte er mich wie eine Tochter, und nach einem Gespräch stellten wir fest, dass wir denselben Geburtstag hatten. Ich glaube, ich spielte ihm eine dreiteilige Invention von Bach und einen Teil eines Haydn-Konzerts vor. Er akzeptierte mich noch am selben Tag als Schülerin.
Mit 17 Jahren spielte ich dann als eine von drei Serkin-Bewerbern am Curtis Institute vor. Ich war von Herrn Filar so wunderbar vorbereitet worden, dass sich mein Vorspielen wie ein Traum anfühlte – so erinnere ich mich daran. Zum Glück wurde ich angenommen und hatte das große Glück, von einem anderen großen Künstler unterrichtet zu werden.
Mit Anfang Zwanzig klopfte ich an die Studiotür von Leonard Shure an der Boston University, um für ihn zu spielen. Ich hatte großartige Dinge über ihn gehört und hoffte, in seinen Lehrplan aufgenommen zu werden. Beim Öffnen der Tür sagte Herr Shure: « Sie sehen meiner Tochter so ähnlich!“ Ich spielte ein bisschen Brahms für ihn – nicht so brillant, meine ich es in Erinnerung zu haben. Aber wieder wurde ich akzeptiert und arbeitete fünf Jahre lang mit ihm zusammen.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich wirklich mit großartigen Lehrern gesegnet war.
Leonard Shure und Rudolf Serkin begannen beide ihre Karriere in Deutschland und mussten im Zuge des Aufstiegs der Nationalsozialisten in die USA emigrieren. Marian Filar überlebte die Gefangenschaft in sage und schreibe zehn nationalsozialistischen Konzentrationslagern und stand kurz vor dem Tod, als er am Ende des Krieges schließlich gerettet wurde. Haben Ihre Lehrer je mit Ihnen über diese Erlebnisse gesprochen und ob sie sich auf ihr Musizieren ausgewirkt haben?
Herr Serkin hat nie mit mir darüber gesprochen. Herr FIlar hat im Laufe der Jahre sehr allmählich mit mir über die Schrecken gesprochen, die er und seine Familie erlitten haben, und darüber, wie sehr sich dies auf seine Karriere ausgewirkt hat, indem sie einen Stopp aller Konzerte und somit des musikalischen Reifens erzwungen hatten. Er hatte seine Mutter verloren, aber sie war stets wie ein Engel an seiner Seite, der ihm sagte, dass er ein großer Pianist werden würde. Nach dem Krieg ging er zu Gieseking und spielte für ihn. Er wurde auf der Stelle akzeptiert, und Gieseking wurde Teil von Filars Wiedergeburt als Künstler, würde ich sagen. Als Kind bemerkte ich die Zahlen auf Filars Arm, und wenn ich zum Unterricht zu ihm nach Hause ging, sah ich manchmal seinen kranken älteren Bruder im Nebenzimmer. Ich spürte eine Aura dessen, was der Krieg ihm angetan hatte, aber er sprach nicht mit mir darüber, bis ich älter war.
Man würde Sie in Ihrem damaligen Status heute wohl als Wunderkind bezeichnen: Sie begannen im Alter von drei Jahren mit dem Klavierspielen, und durch die Vermittlung von Marian Filar kamen Sie mit 12 Jahren in Kontakt mit dem weltberühmten Philadelphia Orchestra, mit dem Sie im Alter von nur 16 Jahren Ihr Live-Debüt gaben. Als junge Pianistin ein Debüt bei einem der Big Five-Orchester! Wie hat sich das angefühlt?
Herr Filar und meine Eltern gingen mit meinem Talent und meinem Lernprozess ganz normal und organisch um. Im Alter von 12 und 16 Jahren war das für mich noch eher ein spielerisches Gefühl, und Herrn Filars Vorbereitung meiner Interpretation des dritten Beethovenkonzerts war so tadellos. Ich war im Grunde frei, diese Erfahrung ohne allzu große Angst oder Nervosität genießen zu können. Ich erinnere mich jedoch noch an die Größe und Dunkelheit des Backstage-Bereichs der Academy of Music in Philadelphia.
Danach folgten Ihre Studien bei Serkin und Shure und sehr ausgedehnte Konzertreisen. Sie spielten mit dem Boston Symphony Orchestra, dem New York Philharmonic, dem Seattle Symphony Orchestra, dem Juilliard-Quartett und vielen anderen renommierten Künstlern und Ensembles. Das alles liest sich bis hier wie die perfekte Karriere eines Rising Stars. Aber es muss einen Punkt gegeben haben, an dem Sie sich entschieden haben, nicht mehr dem üblichen Hamsterrad der klassischen Musikszene zu folgen. Wie ist es dazu gekommen? War es ein besonderer Anlass, der dazu beigetragen hat, dass Ihre Entscheidung nicht dem typischen Weg des Starruhmes folgte, oder war es eher ein schleichender Prozess?
Ich nehme an, der Wunsch nach einer Familie war mit ein Grund dafür, dass ich im Alter von etwa 28 Jahren, als ich heiratete und Kinder bekam, etwas zurücksteckte. Aber ich habe trotzdem privat weiter studiert. Ich hatte wieder einmal das Glück, dass Dorothy Taubman nur ein paar Blocks von mir entfernt in Brooklyn, New York, wohnte. Ich nahm etwa fünf Jahre lang regelmäßig Unterricht bei ihr und trat bei ihren Sommerfestivals am Amherst College auf. Auch die Kammermusik nahm nun einen großen Teil meines Lebens ein. Ich war Pianistin des Trio Borealis und Pianistin des Gramercy Trio, des American Arts Trio und des Vista Lirica Ensembles. Ich flog vielleicht unter dem Radar, aber ich war nie weg.
Es scheint immerhin eine längere Pause in Ihrer Laufbahn mit Albumeinspielungen gegeben zu haben. Ich fand im Internet heraus, dass Ihre frühesten Aufnahmen bei Columbia Records veröffentlicht wurden, während längere Zeit danach keine Veröffentlichungen nachzuweisen sind. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts begannen Sie wieder bei kleineren unabhängigen Labels wie Centaur Records, Navona Records und Ravella Records aufzunehmen.
Die Columbia-Aufnahme wurde in der Music From Marlboro-Reihe im Zusammenhang mit dem Marlboro Festival produziert, wo ich Mitte der 70er-Jahre als Studentin und auch als Tournee-Künstlerin tätig war. Das war kurz bevor ich heiratete, nach Brooklyn, New York, umzog und mich in neue Dinge vertiefte und vielleicht auch von vielen der Menschen und Verbindungen entfernte, die ich zuvor geknüpft hatte.
Dass ich wieder mit Aufnahmesessions beginnen konnte, war ein bisschen ein glücklicher Zufall. Als ich die Goldberg-Variationen in der Steinway Hall in New York City aufführte, dachte ich, es ist einfach gut genug, den Mitschnitt des Konzerts ‘so wie er ist“’ zu veröffentlichen, und ich wandte mich dafür an Centaur Records. Ich begann, das Einspielen von Alben sehr erfüllend zu finden, und hatte zudem einen schönen Erfolg mit meiner Aufnahme der letzten drei Beethoven-Sonaten – wieder live eingespielt – für Navona Records. Andere CDs wurden natürlich im Studio produziert.
Gibt es eine Chance, dass wir Ihre frühe Columbia-Aufnahme irgendwann noch einmal hören werden?
Ich glaube, die LP existiert nach wie vor – höchstwahrscheinlich bei ebay! Es ist eine Aufführung des Hummel-Septetts in d-Moll zusammen mit Musik von Marlboro-Künstlern.
Nun haben Sie im Dezember 2020 bereits Ihr zweites Album für das Münchner Label Aldilà Records veröffentlicht. Wie ist diese Verbindung nach Deutschland zustande gekommen?
Christoph Schlueren hatte mein Album mit den letzten drei Beethoven-Sonaten, das den Titel A SIngle Breath trägt, gehört und mich eingeladen, für sein Label Aldilà Records in München aufzunehmen. Wir waren zunächst einfach nur Facebook-Freunde, und ich hatte das Beethoven-Album in meiner Freundesliste vorgestellt, als es veröffentlicht wurde. Er reagierte darauf und mochte die Aufnahmen. Er arrangierte auch einige schöne Konzerte für mich in München und Wien. Er ist Coach für Musiker geworden, und ich habe im Laufe der Jahre gerne Repertoire für ihn gespielt, zuletzt die Hammerklaviersonate, als ich letztes Jahr in Paris war.
Auf Ihren beiden Aldilà-Alben spielen Sie auch Werke des schwedischen Komponisten Anders Eliasson. Was fasziniert Sie an seinem Œuvre?
Christoph Schlueren hat mich in das Werk von Anders Eliasson eingeführt, und ich habe seine musikalische Sprache sofort als organisch und überzeugend empfunden. Sie schien in der Intensität den älteren Komponisten, die ich zu der Zeit vorbereitete – nämlich Schumann, Schubert und Chopin – zu entsprechen und gleichzeitig dem CD-Programm eine Prise Neues und Frisches zu bieten.
Im Mittelpunkt Ihres neuesten Albums steht (wie der Titel ‘Hammerklavier live’ schon andeutet) die Hammerklaviersonate von Ludwig van Beethoven, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Als ich hörte, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt, einen nicht bearbeiteten, an einem Abend in Baltimore in einem Take aufgenommenen Live-Mitschnitt, war ich beinahe sprachlos, ich konnte es kaum glauben – es muss ein wirklich magischer Konzertabend gewesen sein.
Ich hatte die Hammerklavier-Sonate vorher bereits einige Male aufgeführt und hatte das Gefühl, dass sie wuchs und etwas Gutes daraus wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob die Aufnahme in einem Studio unbedingt eine bessere Art und Weise gewesen wäre, sie zu präsentieren. Die Live-Aufführung war durchaus nicht perfekt, aber sie hatte etwas – ein Gefühl, eine Qualität – mit der ich zufrieden war. Ich bin so froh, dass Sie mit Begeisterung darauf reagieren!
Hatten Sie die Live-Aufnahme dieses Konzertabends schon lange geplant oder war (z.B. für Rundfunkzwecke) ein Tontechniker-Team eher zufällig anwesend? Ich frage deshalb, weil dieser Live-Mitschnitt wirklich etwas Besonderes hat, von dem ich mir kaum vorstellen kann, dass man so etwas wirklich planen kann, denn selbst herausragende Künstler wie Sie haben doch auch eine ‘Tagesform’, nehme ich an.
Ich danke Ihnen! Ich betrachtete den Abend im Grunde als ein Konzert unter der Möglichkeit, dass es gut genug werden könnte, es als Live-Mitschnitt zu veröffentlichen. Der Tontechniker, der Saal und das Klavier erwiesen sich an diesem Abend als wunderbar, und ich muss Asiya Korepanova dafür danken, dass sie mich eingeladen hat, in ihrer Reihe beim Festival Baltimore zu spielen. Wie Sie sagten, gab es eine gute Aura, die nicht geplant war, sondern aus der Aufführung hervorging.
Erst 2017 führte Sie Ihr Weg zum ersten Mal als Konzertsolist mit Orchester nach Deutschland. Mit der Kammerakademie Neuss spielten Sie das dritte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven und das Carosello (Disegno Nr. 3) von Anders Eliasson, das Sie nun für Ihr neues Album auch aufgenommen haben. Vorausgesetzt, die Corona-Krise lässt irgendwann wieder Live-Konzerte zu: Wann können wir Sie im deutschsprachigen Raum wieder live erleben?
Ich würde gerne wiederkommen! Das Konzerterlebnis war ausgezeichnet durch die Zusammenarbeit mit Christoph Schlueren und der Kammerakademie Neuss, die sich aus bemerkenswerten Musikern zusammensetzt. Ich hatte im Frühjahr mehrere Recitals, die wegen der Pandemie leider abgesagt wurden – aber ich hoffe für mich und für die Künstler in aller Welt, dass es bald wieder aufwärts geht.
Pizzicato-Rezensionen