Beim Titel Ein neues Jahrhundert mag mancher wegen der in dieser Zeit komponierten Musik an das Programm selbst denken, jedoch ist diese Sammlung auf drei Scheiben ein Geschenk des 1918 gegründeten Orchesters an sich selbst. Im Arrangement von Franz Welser-Möst blüht Beethovens Streichquartett op. 132 durch die Addition von Kontrabässen in der tiefen Lage auf. Insgesamt bringen die vielfach besetzten Streicherkräfte zusätzlich Wärme und weniger virtuose Ausstrahlung in das Werk, was auch ein Ausdruck des europäischen Klangs des Orchesters ist. Im dritten Satz wird das Orchester vom Dirigenten inspiriert zu seiner atemberaubendsten Darbietung angeregt.
Amériques von Varèse klingt auch heute noch modern. Unheimliche Klangfarbenkombinationen und die einzigartige Verarbeitung von Melodie und Rhythmus sind immer noch staunenswert. Variierende Stimmungen bei Beethoven treffen hier auf Verunsicherung, Verwirrung und Schattierungen. Die Nuancen dieses Werkes formt Welser-Möst zu einem eindrucksvollen Bogen, und die Musiker geben eindrucksvolle Soli.
Mit Stromab von Johannes Maria Staud erklingt ein Kompositionsauftrag des Orchesters. Das gut fünfzehnminütige Werk, inspiriert von Blackwoods Die Weiden, bietet horrorlastig fließende Spannung und sogar Tanzfreuden. Es beginnt mit gleißenden Effekten, gefolgt von rhythmisierten Orchesterbewegungen, die mit spannungsförderndem Flirren garniert sind. Das Werk ist nicht Programmmusik, aber die Schwingungen, die von der Prosa ausgehen, werden zu Klang. Mit schillernden Farben wird das Orchester die Donau hinabgeschickt und macht die Schreckensgeschichte unterhaltsam und eindringlich.
Das Orgelkonzert Okéanos ist alternierend mit je zwei langsamen und raschen Sätzen strukturiert. Der Orgel wird ein groß besetztes Orchester entgegengestellt, klanglich durch vier Schlagzeuger sowie Windmaschine, Celesta und Harfe erweitert. Der Titel Okéanos, also Ozean, aber auch Ursprung der Welt, vermittelt eine Idee von Größe und Weite. Neben virtuos solistischen Aufgaben dialogisiert die Orgel immer neu mit dem äußerst differenziert eingesetzten Orchester. Intime, zarte Momente wechseln mit ekstatischen Ausbrüchen, durch Tempi und Rhythmen geschärft. Der Titel gibt die Assoziation zum Wasser durch orchestrale Wellen wieder. Die anderen Sätze stehen für die übrigen Elemente Luft, Erde und Feuer.
Paul Jacobs ist der einzige Solist dieser Sammlung. Bisher einziger Grammy Gewinner für Orgel und Marathonmann für die Aufführung des Gesamtorgelwerks von Bach am Stück, ist er auch moderner Musik zugetan. Der ausdrucksvollen Gestaltung des Soloparts von Okéanos kann man entnehmen, dass er auch moderne Musik beherrscht. Luftig Leichtes weiß er neben Ausbrüchen zu platzieren. Jacobs lässt sich von der Musik mitreißen ebenso wie er sie vorantreibt und wird dabei mustergültig vom Orchester unterstützt.
Zwei klassische Komponisten stellen dann noch ältere Seiten des vergangenen Jahrhunderts in den Blick, Aus Italien von Strauss und von Prokofiev die 3. Symphonie. Wie nicht anders zu erwarten, erleben beide Stücke technisch ausgefeilte und interpretatorisch hochklassige Darbietungen.
Wie gut die Zusammenbeißt zwischen Dirigent und Orchester funktioniert, wird auch daran deutlich, dass der Vertrag mit Welser-Möst jüngst bis 2027 verlängert wurde und seine Epoche dann die legendäre mit George Szell zeitlich überschreiten wird.