Der beinahe in der Mitte seines zehnten Lebensjahrzehnts stehende Herbert Blomstedt war mit den Wiener Philharmonikern angereist und so wurde gleich zum Auftakt der neuen Saison in der Philharmonie Luxemburg ein lange sehnlichst vermisstes, großes musikalisches Erlebnis geboten, meint Uwe Krusch für Pizzicato.
Dass diese beiden, die Wiener und Blomstedt sich mögen, war sicher nicht der schlechteste, aber auch nicht der einzige Grund für das Gelingen des Abends. Die Wiener, die wie alle Orchester, nun wieder in gewohnter Sitzordnung auftreten dürfen, haben in der Pandemie nichts von ihrer Spielkultur verloren – oder schon wieder gewonnen? Auf dieser Basis konnte Blomstedt, der auswendig dirigierte, mit seinen eleganten, sparsamen, aber auch zielsicheren Gesten sein Dirigat bzw. seine Ermunterungen anzeigen und die Musiker im musikalischen Fluss koordinieren.
Mit einem als romantisch angesehenen Programm hatte Blomstedt, der sich nun auf seine bevorzugten Werke konzentriert, aber auch leichtes Spiel. Da sowohl die Unvollendete von Schubert als auch die 4. Sinfonie von Bruckner, die auch als Romantische bezeichnet ist, zum Kernrepertoire des Orchesters gehören, konnten sie das technisch Bekannte und Vertraute musikalisch frisch erarbeiten und das Ergebnis an das Publikum als Hörgenuss weitergeben.
Aus allen Aspekten, die diese Interpretationen prägten, ragten natürlich die Hörner, auch ein speziell mit dem romantischen Begriff verbundenes Instrument, heraus, die einen prägenden Anteil am Programm hatten und diesen mit Bravour bewältigten. Doch auch vor allem Holzbläser und bei Bruckner das Blech boten Allerfeinstes, ohne die Streicher in irgendeiner Weise schmälern zu wollen.
Interpretatorisch gab es vielleicht zwei besonders bemerkenswerte Punkte. Blomstedt ist ein großer Disponent der Zusammenhänge. So gelang es ihm, durch das Orchester eine zwingend klingende Strukturierung aus ruhig atmenden, wie verinnerlichten, und wunderbar beweglichen, auch auftrumpfenden Abschnitten zu schaffen und so aufregenden Landschaften zu entwerfen. Dass die Formung des Gesamtbildes insbesondere bei Bruckner großartig sein würde, war da Bestätigung und nicht Überraschung. Dass er auch trotz seines Alters noch ein ständig wacher Inspirator ist und die Wiener dies ebenso selbstverständlich wie phänomenal umsetzen, wenn mag es überraschen?
Der andere wesentliche Aspekt ist, auch im Detail die Musik so zu steuern, dass, aus Einzelkomponenten ein Ganzes erwachsen kann. So gab er der Musik den Charakter, etwa in den ersten Sätzen, die drängende Geste, die Spannung erzeugt, aber keine Hetze. Auch erklangen beispielsweise im ersten Satz der Unvollendeten markante Streichereinwürfe genau die Spur präsenter, vielleicht sogar im Kontext früher als bei anderen Sichtungen, und genau diese minimal andere Behandlung ergab die Stringenz, die anderen fehlt. Überhaupt kann man hier die Beherrschung von Übergängen zwischen verschiedenen Passagen innerhalb des Ablaufs nicht genügend bewundern und loben; vielleicht der Kern überzeugender Dirigate.
Wenn sich Tatjana Mehnert im Programmheft mit der Begrifflichkeit der Romantik tiefer auseinandersetzte und vor allem an die bedingungslose Verwirklichung des Künstlers als unabhängiges Individuum anknüpfte, mag man ergänzen, dass Romantik heute im allgemeinen Sprachgebrauch meist einen sentimentalen Zustand des Gefühlsreichtums, vielleicht auch der Sehnsucht bezeichnet. Diesen Gefühlsreichtum meinte man spätestens am Ende des Konzerts zu spüren. Im wieder dicht besetzten Auditorium, nur jeweils ein freier Platz wurde innerhalb einer Reihe zwischen nicht zusammengehörenden Gästen belassen, sind bis zu etwa 750 Zuhörer möglich, so dass der Eindruck eines voll besetzten Saales das Gefühl von Normalität entfaltet. Das löste zusammen mit der großartigen Aufführung spontan das Bedürfnis aus, den Genuss der neuen Normalität und natürlich auch Dirigent und Orchester zu lobpreisen.