Der in Brasilien lebende und aus der Schweiz stammende Geiger Renato Wiedemann hat sein Debutalbum aus diesen beiden geografischen Anknüpfungspunkten zusammengestellt. Werke aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von Komponisten aus beiden Staaten, bei Widmer ebenfalls ein Bürger beider Länder, ergeben ein schlüssiges und aufschlussreiches Programm.
Als bekanntes Werk mag man die Baal Shem-Suite von Ernst Bloch sehen, die Wiedemann und seine Klavierpartnerin Marija Bokor an den Beginn gesetzt haben. Hier bringen sie die Stimmungen des reuigen Sünders, den frei schweifenden improvisierenden Gesang frommer Juden und schlussendlich die festliche Stimmung des Simchat Tora mit feierlicher Prozession und Tanz und Gesang mit inniger Tiefe, aber ohne Schwere, zum Ausdruck.
Von Liebeskummer geprägt mag man die Sonate von Othmar Schoeck verstehen. Außerdem bietet er den lyrischen Charakter eines Liedkomponisten, aber auch formell mit geschärftem Kontrapunkt und harmonisch entwickelt zeigt er sein Können. Die Interpreten bilden diese Musik mit feinem Aushorchen der Nuancen und Gemütszustände an, bleiben dabei nah am Sujet, ohne sich aber hineinziehen zu lassen.
Die in einem Satz aufgebaute erste Sonate von Villa-Lobos, die trotzdem frei der Form einer klassischen Sonate folgt, entspricht in ihrer Ausstrahlung ihrem Titel, Verzweiflung. Auch hier zeigen Wiedemann und Bokor, dass ihnen ausdrucksstarke Musik mit besonderer Eleganz gelingt.
Die zweite Sonate von Camargo Guarnieri nimmt ihre Anziehungskraft aus der Verbindung der von brasilianischer Tradition beeinflussten Melodien und Rhythmen mit kosmopolitischer Sprache, die in seiner Zeit in Paris hinzukam. Bereits reich an dissonanten Farben beginnt dieses frühe Werk anmutig, zeigt die größten Dissonanzen, aber auch Seele im zweiten Satz, bevor der Schlusssatz das Werk brillant und festlich beendet.
Widmer nimmt sich mit der Form der Sonatine, hier in der Ersteinspielung zu hören, auch die Freiheit, viele Themen, Farben und Stimmungen aneinander zu reihen; der abschließende Variationssatz zeigt das deutlich.
Auch in diesen beiden Werken wissen die Interpreten die vielen Aspekte vor allem in den Stimmungen mit sicherer musikalischer Eloquenz darzustellen. Dieses vielschichtige Programm regt zum wiederholten Hören an, da sich Wiedemann und Bokor der Musik mit großer Zuneigung angenommen haben, ohne in den Gefühlen zu ertrinken. Zusammen mit einer gelungenen aufnahmetechnischen Umsetzung und einem Beiheft, in dem ein Interview mit Renato Wiedemann die Ausführungen zu den Werken ergänzt, gelingt der Sprung aus den vergletscherten Alpen in den Regenwald, solange es beides noch gibt.
The violinist Renato Wiedemann, who lives in Brazil and comes from Switzerland, has compiled his debut album from these two geographical points of contact. Works from the middle of the twentieth century by composers from both countries – Widmer is also a citizen of both countries – result in a coherent and informative program.
The Baal Shem Suite by Ernst Bloch, which Wiedemann and his piano partner Marija Bokor have placed at the beginning, may be regarded as a well-known work. Here they express the moods of the repentant sinner, the free-flowing improvised singing of pious Jews and finally the festive mood of Simchat Torah with a solemn procession and dancing and singing with intimate depth, but without heaviness.
Othmar Schoeck’s Sonata can be understood as being characterized by lovesickness. He also offers the lyrical character of a song composer, but he also demonstrates his formal ability with sharpened counterpoint and harmonic development. The performers create this music by delicately listening to the nuances and emotional states, remaining close to the subject without allowing themselves to be drawn in.
Villa-Lobos’ first Sonata, which is structured in one movement but still freely follows the form of a classical sonata, corresponds to its title, Despair, in its radiance. Here, too, Wiedemann and Bokor show that they can create expressive music with particular elegance.
Camargo Guarnieri’s second Sonata draws its appeal from the combination of melodies and rhythms influenced by Brazilian tradition with the cosmopolitan language that was added during his time in Paris. Already rich in dissonant colors, this early work begins gracefully, displaying the greatest dissonances but also soul in the second movement, before the final movement brings the work to a brilliant and festive close.
With the form of the sonatina, heard here in the first recording, Widmer also takes the liberty of stringing together many themes, colors and moods; the concluding variation movement shows this clearly.
In these two works too, the performers know how to portray the many aspects, especially in the moods, with assured musical eloquence. This multi-layered program encourages repeated listening, as Wiedemann and Bokor have embraced the music with great affection without drowning in emotion. Together with a successful technical realization of the recording and an accompanying booklet in which an interview with Renato Wiedemann complements the explanations of the works, the leap from the glaciated Alps to the rainforest is successful, as long as both still exist.