Die letzten Lieder Schuberts wurden nicht von ihm selbst, sondern von seinem Verleger Haslinger als Schwanengesang zu einem Zyklus zusammengefügt. Zwischen der Poesie Rellstabs und den unbeschreiblichen Gedichten von Heinrich Heine liegen Welten, einerseits die Einfachheit der Rellstab-Lieder, andererseits die Tiefgründigkeit der Heine-Vertonungen, die als « weitere Schritte ans Ende der Nacht » bezeichnet wurden.
Can Cakmur ist einer der wenigen Künstler, die den vollständigen Zyklus in der Bearbeitung von Franz Liszt aufgenommen haben. Er spielt ihn nicht in der von Liszt neu geordneten Reihenfolge und auch nicht in der originalen Abfolge des Liederzyklus, sondern in einer selber konzipierten Reihenfolge, die durchaus Sinn macht. Er benutzt dafür einen exzellenten, klanglich sehr breit angelegten Shigeru Kawai Flügel, der seinem Spiel mit perfekter Balance und großer Dynamik entgegenkommt.
Was Ausdrucksreichtum, Differenzierung und Subtilität der Klangfarben angeht, ist die von Ernsthaftigkeit geprägte Interpretation, das sei vorab gesagt, herausragend. Der Pianist kann jedes Lied mit unerhörter Spontaneität bis ins Innerste ausloten, jedem Stück seine ganz charakteristische Atmosphäre geben und alle, auch die feinsten Nuancen, gedanklich und musikalisch genauestens abwägen. Dramatische Ausbrüche (Der Doppelgänger) gelingen ihm ebenso gut wie die Darstellung intimer Intensität (Ständchen).
So erlebt man natürlich vor allem in den Heine-Liedern das musikalische Seelendrama, das Schubert am Ende seines kurzen Lebens so einzigartig gestaltete, umso eindringlicher, zumal Liszt eine phänomenale Transkription gelungen ist. Can Cakmur benutzt sie nicht, wie das einige andere getan haben, um das Scheinwerferlicht auf sich zu lenken. Er bleibt sehr nahe am ursprünglichen Text, der Schubert inspirierte und den Liszt stark berücksichtigte. Dabei liegt Sentimentalismus dem jungen Pianisten fern, seine Gefühlswelt ist tief und echt.
Dort, wo von Sehnsucht die Rede ist, spürt man sogar Bitterkeit, im Ständchen auch, in einem hoch sensiblen, poetischen Spiel, das Illusionslose der Musik! Kein Wunder, denn die Tränen fließen ja ewig (Aufenthalt), aber auch an Tränen gewöhnt man sich und leidet dann stark ‘die ganze Welt der Schmerzen’ (Atlas).
Can Cakmur dringt den ganzen Zyklus über ungemein tief in die Musik ein, und es ist für den Zuhörer unmöglich, nicht von diesem Spiel ergriffen zu werden, weil dem jungen Pianisten mit seinen 23 Jahren eine vollkommene Durchdringung und Poetisierung der musikalischen Materie gelingt, nicht zuletzt auch, weil er keinen Kontrast scheut. Ein solcher gelingt ihm mit der Gegenüberstellung von einem burschikosen ‘Abschied’ (im Vergleich bringen andere Interpreten mich in diesem Stück zu schallendem Spottgelächter) und dem reflektiven ‘In der Ferne’, mit dem Wandel von vollkommener Desillusionierung zu hymnisch flehender Hoffnung.
In der Verlängerung dieser grauenvoll erbarmungslosen Liedtranskriptionen erlangen die Quatre Valses Oubliées eine besondere Bedeutung. Die in den frühen 1880er Jahren komponierten Stücke sind gewissermaßen eine Brücke zwischen dem jungen und dem reifen Liszt, weil er darin Musik aufgreift, an der er Jahre zuvor arbeitete. Daraus ergeben sich der melancholische Unterton, die reflektive Leichtigkeit, und nicht zuletzt die Rätselhaftigkeit der vier Stücke, die Cakmur in seinem hervorragenden Booklet-Text mit Michelangelos « Alles endet, was entstehet. Alles, alles rings vergehet » beschreibt. Schattenhaft und fast irreal bringen sie das Programm zu Ende, mehr Fragen aufwerfend als sie beantworten können. Kein anderer Interpret hat, um nur den letzten Walzer näher zu beschreiben, soviel Differenzierung in die Musik gebracht wie Cakmur. In fahles Licht getaucht beginnt die Komposition, wird dann mit viel innerlicher Erregung in ein viel grelleres Licht gezerrt und trunken-hypnotisch gesteigert, um mit kontinuierlich nachlassender Kraft wie eine abgelaufene Feder aufzuhören. Im Nichts der Nacht.