Diese Frau spielt ganz anders Klavier. Dinara Klinton, in Kiew geboren, in Moskau ausgebildet, ist doch ein später Spross jener jüdisch-russisch-ukrainischen Schule, die seit Zarenzeiten weltweit nachwirkt, und bei der gerade die deutsche Romantik immer schon in allerbesten Händen war: Technik, Gefühl – und Freiheit. Martin Bernklau berichtet.
Dinara Klinton trat am Sonntagnachmittag zum vierten Konzert beim Cannstatter Klavierfrühling auf, als einzige Frau in der Riege fantastischer junger Solisten. Ihr Programm war ganz der romantischen Trias aus Clara und Robert Schumann im Bund mit dem jungen Johannes Brahms zugedacht.
Die erste Konzerthälfte widmete Dinara Klinton ganz Robert Schumann, dem Klangpoeten und Tondichter, mit zwei Werken aus der schwierigen Verlobungszeit mit Clara Wieck und seinem wenig erfreulichen Aufenthalt in Wien über den Winter 1838/39. Beide Werke sind freilich anderen Frauen zugeeignet. Ohne Beifallspause spielte Dinara Klinton die ihrem rhapsodisch ungebundenen Charakter sehr verwandte vierteilige Arabeske C-Dur op. 18 und die acht Fantasiestücke op.12 an einem Stück.
„Leicht und zart“ wollte Schumann die Arabeske begonnen wissen, weich und ganz sanft an seinen schwärmerisch melodischen Linien entlang setzte Dinara Klinton ihren ganz besonderen Anschlag ein, der selbst in wuchtig stürmischen Passagen wie dem berühmten „Aufschwung“ aus den Fantasiestücken bei aller Kraft nie hart wird. Dabei selbst in rasenden Läufen immer noch Klarheit walten zu lassen, erfordert eine eminente Präzision.
Natürlich setzt die Pianistin die Rubati und Ritardandi, das ganze agogische Arsenal ein, das zu Schumanns Klaviermusik gehört wie seine Lust am Kontrast und am Virtuosen. Sie bleibt dabei aber ungewöhnlich nah an einem beständigen Metrum. Ihre besonderen Mittel, ein inneres Tempo zu gestalten, sind minimale Verzögerungen in der führenden Stimme, wenn sie bremsen, und umgekehrt Nuancen von verfrühtem Einsatz, wenn sie etwas anziehen will.
Clara Wieck war 19 Jahre jung, als sie die Drei Romanzen opus 11 ihrem Verlobten widmete. Gerade im Vergleich mit den vorangegangenen Stücken Robert Schumanns lässt sich mit einem gewissen Erstaunen bemerken, dass ihr eigentlich ein ausgeprägteres Formgefühl eigen war als ihrem späteren Gatten, dem ja Nietzsche, selber eben erst dem übermächtigen Wagner-Rausch entwöhnt, wenig freundlich eine undisziplinierte „Trunkenboldigkeit des Gefühls“ zusprach.
Sorgsam wählt Clara Wieck die Charaktere ihrer Themen aus: mal choralhaft, in schlichter Liedgestalt, auch tänzerisch, gar hymnisch und dann wieder als schwärmerische Kantilene wie in der dritten, der Moderato-Romanze. Viel ausgeprägter als der neun Jahre ältere Schumann setzt sie Mehrstimmigkeit bis hin zum regelrechten Kontrapunkt ein, gibt selbst dieser freien Form eine klarere Struktur. Der übermütigen Spielfreude der jungen Virtuosin tut sie in eher unaufdringlicher Art Genüge.
Als Johannes Brahms die Schumanns kennenlernte und im Jahr 1852 seine Sonate fis-Moll opus 2 der schwärmerisch verehrten Clara widmete, war er gleichfalls 19 Jahre alt. Da ist noch viel jugendlicher Übermut, reichlich Pathos, große Geste und in den imposanten Akkordketten auch der donnernder Aplomb des Tastenvirtuosen zu hören. Das Vorbild Beethoven klingt an, etwa im grimmigen Thema des Scherzo, wobei der formbewusste Brahms doch das Trio des klassischen Menuetts beibehält.
Den langsamen zweiten Satz baut er gefühlvoll als Dialog auf. Im Finale mit seinen vielen rhapsodischen Abschnitten, ganz oft mit „sostenuto“ bezeichnet, war die Orientierung von Brahms an seinem Freund und Förderer Robert Schumann offenkundig. Großer Klanggewalt und zärtlichem Schwärmen gab die Pianistin da dichten Ausdruck, bei aller Agogik stets mit staunenswerter Genauigkeit.
Nicht nur hier setzte Dinara Klinton, wenn auch in ganz unterschiedlicher Intensität, fast durchgängig das rechte Pedal ein. Über das Maß könnte man streiten, wenn denn dieser Hall vernebelt, verschleiert, verwischt hätte. Das tat er aber nicht bei ihrer unglaublich genauen und dennoch weichen – man ist versucht zu sagen: weiblichen – Geläufigkeit, eher wirkte er wie zum intensiveren Nachklingen, Nachhören und Nachspüren bestimmt.
Die ungewöhnlich kleinen Hände der Pianistin und ihre eher begrenzte Spannweite machten sich weder in den kraftvollen Oktav-Parallelen, den weiten Arpeggien, oft übergriffigen und nicht immer nur linearen Läufen auch nur im Geringsten als Einschränkung bemerkbar. Über allem lag eine ungemein gefühlsstarke Ausdruckskraft, die das Romantische dennoch nie kitschig werden ließ.
Die Zuhörer im ausverkauften Kursaal waren tief beeindruckt und wurden von Dinara Klinton für den begeisterten Beifall mit zwei Encores bedankt, natürlich von Robert Schumann, darunter einer Sinfonischen Etüde aus genau jener krisenhaft schwierigen, aber trotzdem kreativ so ertragreichen Lebensepoche.
Festivalleiter Robert Neumann, der das Konzert mit viel wissenswertem Hintergrund moderierte, wird den Cannstatter Klavierfrühling, der schon jetzt alle Erwartungen übertroffen hat, am kommenden Sonntag im Kursaal abschließen, unter anderem mit der Fortsetzung der frühen Brahms-Sonaten, mit Beethoven, Debussy und der Uraufführung eines Werks von Lawson Lawall, Jahrgang 1999.