Herr Meister, nach fast drei Jahren Corona laufen die Bayreuther Festspiele wie auch die meisten kulturellen Institutionen wieder einigermaßen rund. Und doch hat diese Zeit vieles im Bewusstsein der Menschen verändert. Auch auf kultureller Ebene.
Ja, denn wir erleben gerade eine Zeit, die wichtige Weichenstellungen vor sich hat. Zweierlei habe ich in der letzten Zeit erfahren, das mich bedrückt hat. Bei manchen Eltern, in Schulen und Kindergärten hat sich der Eindruck verfestigt, dass Singen grundsätzlich gefährlich sei. Durch Singen mache man andere krank. Diese Botschaft, die in ihrer Absolutheit natürlich nicht nur blödsinnig ist, sondern auch gefährlich, ist bei vielen leider hängengeblieben. Wenn das gemeinsame Singen aber nicht mehr als ein ur-menschliches Bedürfnis angesehen wird, dann riskiert die Menschheit, etwas sehr Wertvolles zu verlieren. Der Laienchor, der sich wöchentlich trifft, und das morgendliche Singen im Kindergarten: über das Musizieren entsteht eine ganz wichtige Vertrautheit für unser menschliches Zusammenleben. Der andere Punkt ist: Ich erlebe kulturliebende Menschen, die in den letzten zwei Jahren ein anderes Verhältnis zu Veranstaltungen entwickelt haben. Viele Personen auf engem Raum machen ihnen plötzlich Angst. Man bleibt zu Hause, da man verlernt hat, Aufführungen zu besuchen, wenn man etwas erleben möchte. Ich verfolge mit Sorge, was mit einer Gesellschaft passiert, die in dieser Hinsicht immer passiver wird. Nicht umsonst ist die Menschheitsgeschichte auch durch Konzert- und Opernhäuser, durch Theater und Museen geprägt. In ihnen erleben wir in der Begegnung untereinander weit mehr als lediglich eine Aufführung oder ein passives Konsumieren. Kultur ist Miteinander. Kultur ist Bildung. Kultur ist Austausch. Kunst und Musik habe einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag.
Nachdem Sie hier bei den Bayreuther Festspielen als Dirigent für Tristan und Isolde vorgesehen waren, haben Sie kurzfristig die musikalische Leitung des Ringes von Pietari Inkinen übernommen, der an Corona erkrankt war. Wie bereitet man sich eigentlich auf ein solch riesiges Werk innerhalb so kurzer Zeit vor?
Diese Frage möchte ich auf zwei verschiedene Arten beantworten. Zum einen hätte ich nicht Ja gesagt, wenn ich nicht den Ring des Nibelungen schon seit vielen, vielen Jahren dirigiert hätte und in Bayreuth an einem Ort wäre, an dem auch alle Sängerinnen und Sänger ihre Partien schon sehr oft gesungen haben. Ebenso einzigartig ist die Qualität des Festspielorchesters. Für unseren Wotan Tomasz Konieczny war es bereits seine 17. Walküre-Produktion, die er in seinem Leben singt. Produktion, nicht Aufführung. In diesem Sinne ist es keine unbekannte Henze-Oper, die ich übernommen habe. Zum anderen aber stimmt es, dass wir viel weniger Probenzeit zur Verfügung hatten als üblicherweise. Daher haben wir bis zuletzt fleißig und intensiv geprobt, sonst wäre die Premiere gar nicht möglich gewesen. Als ich einen Tag vor Beginn der Hauptproben als Ring-Dirigent benannt wurde, war die Produktion mitten in der intensiven Probenphase. Daher haben wir jede Minute genutzt, um immer und immer wieder an der dramatischen Gestaltung zu arbeiten. Das haben wir vor der Premiere gemacht, das haben wir vor der zweiten Aufführung gemacht, und auch vor dem dritten Zyklus. Wagner kann man auf so viele Arten und Weisen aufführen, es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Entscheidend ist aber, dass die gemeinsame Richtung stimmt. Der gemeinsame Geist innerhalb des Ensembles und des Festspielorchesters, den ich bei den beiden vergangenen Aufführungen gespürt habe, ist großartig. Natürlich, hätten wir mehr Zeit gehabt, wären wir früher dran gewesen, aber so entwickelte sich über die Premiere hinaus gerade sehr Schönes.
Valentin Schwarz’ Inszenierung ist ja sehr modern. Demnach agieren, singen und phrasieren die Sänger ja auch anders, als bei einer konventionell-klassischen Inszenierung. Hat das einen direkten Einfluss auf Ihr Dirigat?
Unbedingt. Auch umgekehrt. Valentin Schwarz und ich haben nicht lange, aber dennoch sehr vertrauensvoll zusammengearbeitet. Es ist ihm und mir sehr wichtig gewesen, dass nicht jeder sein Ding macht, sondern dass Regie und Musik zu einem natürlichen Organismus verschmelzen. Was ja auch Richard Wagners Kerngedanke des Musiktheaters war. Es gibt eine visuelle Ausformung der Dramatik und eine akustische. Das sind nur zwei Seiten einer, ich betone, gemeinsame Aufgabe. Besonders wird das im Rheingold klar, was ja häufig nicht zu Unrecht als Konversationsstück bezeichnet wird. Da habe ich mit den Sängerinnen und Sängern besonders viel am Text und der Ausgestaltung der dramatischen Situation gearbeitet. Es ist keine Kunst, eine fertige Produktion zu übernehmen und etwas Schönes daraus zu machen, aber hier war man, als ich dazu gestoßen bin, noch mittendrin in der Erarbeitung. Zudem wurde die Partie des Wotan mehrfach umbesetzt, und auch der Götterdämmerung-Siegfried Stephen Gould musste krankheitshalber am Premierenabend kurzfristig ersetzt werden. Außerdem verletzte sich Tomasz Konieczny im 2. Akt der Walküre, so dass in der Pause vor dem 3. Akt Michael Kupfer-Radecky den Auftrag erhielt einzuspringen. Das sind sicher keine Voraussetzungen, die man sich wünscht, aber das ist nun mal lebendiges Theater. Und das verlangt oft schnelles Reagieren. Aber Sie haben Recht: Als Dirigent ist es meine vordringliche Aufgabe, dass sich alle von ihrer besten Seite zeigen können und ihre jeweilige Höchstleistung abrufen. Dazu gehört beispielsweise, wie sehr man in der besonderen Bayreuther Akustik Holzbläserstimmen hervorbringt und wie stark man die Artikulation derjenigen, die im Orchestergraben weit unten sitzen, schärfen kann. Aber was ebenfalls sehr wichtig ist, das ist der Grundklang. Jeder weiß, dass im Bayreuther Festspielhaus besondere akustische Verhältnisse herrschen, die es sonst in keinem Opernhaus der Welt gibt. Für manche überraschend, haben wir Dirigenten aber vergleichsweise wenig Einfluss auf den Grundklang, da er in erster Linie vom Bühnenbild beeinflusst, resp. gemacht wird. Mich verblüfft es immer wieder, wie wenig das selbst bei Menschen, die seit Jahrzehnten nach Bayreuth kommen, bekannt ist. Aus welchem Material das Bühnenbild ist – ob aus Holz, aus Metall, aus Glas – und wie weit die Bühnenrückwand vom Portal entfernt ist: das alles hat hier in Bayreuth durch den mehrfach reflektierten Klang einen viel größeren Einfluss auf das Hörerlebnis im Zuschauerraum als anderswo. Das Bühnenbild formt also den Klang, und somit klingen einzelne Szenen in der Walküre z.B. komplett anders als der erste Akt des Siegfried. Wann immer ich die Möglichkeit habe, suche ich daher bereits Monate oder gar Jahre im Voraus den Kontakt zum Bühnenbildner. Es ist enorm wichtig, dass Bühnenbild und Orchesterklang so aufeinander abgestimmt sind, dass sie miteinander harmonieren. Ein ideales Bühnenbild soll nicht nur visuell, sondern auch akustisch gelungen sein.
In diesem Jahr soll es anscheinend zwei Orchester in Bayreuth gegeben haben.
Gut, dass Sie das ansprechen. Da gibt es viel Fehlinformation. In Bayreuth waren in jedem Jahr immer viel mehr Musikerinnen und Musiker engagiert, als man für den einzelnen Abend braucht. In diesem Sommer spielt das Festspielorchester acht verschiedene Werke. Niemand im Orchester wäre in der Lage, jeden Tag ohne Pause auf höchstem Niveau zu spielen. So wechselt die Horngruppe traditionell sogar während der Stücke, im Siegfried beispielsweise nach dem 1. Akt. Der erste Hornist des 1. Akts spielt dann zusätzlich noch von der Seitenbühne den sogenannten Siegfried-Ruf im 2. Akt. Bei der Walküre wechselt man vor dem 3. Akt. Das ist seit vielen Jahren Tradition. In diesem, wie auch im letzten Jahr, ist die Einteilung zwischen den Werken wegen Corona allerdings so vorgegeben, dass mögliche Infizierte rasch separiert werden können. Das hat aber keinen Einfluss auf die Qualität. Es gibt kein A- und kein B-Orchester. Alle, die in Bayreuth verpflichtet werden, bieten Topleistungen auf ihrem Instrument, und es wird so eingeteilt, dass alle Gruppen qualitativ möglichst gleichwertig sind. Aber wie überall kann jeder von uns mal einen besseren oder schlechteren Tag haben.
Sie waren schon 2004 in Bayreuth und zwar als Assistent von Pierre Boulez bei Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung. Was hat Pierre Boulez Ihnen mit auf den Weg gegeben. Er war ja nie der typische Wagner-Dirigent.
Er war damals schon fast 80 Jahre alt, aber er hatte so unwahrscheinlich viel Feuer und eine progressive Begeisterung. Oft habe ich später an den Sommer 2004 gedacht, wenn ich Pierre Boulez’ Werke dirigiert oder wieder einmal seine Schriften gelesen habe. Als er 1976 mit Patrice Chéreau den Ring herausbrachte, war das eine Revolution, sowohl von der Inszenierung wie auch von der musikalischen Interpretation her. Man erzählt sich, dass nach den Vorstellungen Wolfgang und Gudrun Wagner nur unter Polizei-Eskorte nach Hause gehen konnten, weil das Publikum so in Rage war. Diese Wut des Publikums richtete sich nicht nur gegen Chéreau, sondern auch gegen Boulez, eben weil vieles so anders klang als in den Jahren zuvor. Boulez hat sich diese Begeisterung und Offenheit immer bewahrt, selbst in hohem Alter. Eigentlich hätte er sich zurücklehnen können, er war etabliert. Aber nein. Er war die uneingeschränkte Autorität und die treibende Kraft der ganzen Parsifal-Produktion.
Sie selber sind jetzt Anfang Vierzig und dirigieren Wagner ja schon seit vielen Jahren. Inwieweit hat sich Ihr Wagner-Bild im Laufe der Zeit verändert?
Mir ist über die Jahre mehr und mehr klar geworden, dass wir vieles an Wagners Einstellungen, die wir durch seine Schriften und Äußerungen kennen, nur verachten können. Sein Antisemitismus ist furchtbar. Auch wie er mit seinen Frauen und Geliebten umgegangen ist, irritiert uns Heutige. Wagner ist kein Heiland, den wir unkritisch anbeten können. Das soll aber nicht meine Bewunderung und Verehrung für das, was er uns künstlerisch hinterlassen hat, schmälern. Im Gegenteil, es zeigt uns einmal mehr, dass große Künstlerpersönlichkeiten oft furchtbare Seiten hatten. Nehmen wir Caravaggio, der ein genialer Maler, aber auch ein Mörder war. Das sagt aber nichts über die einzigartige Qualität seiner Gemälde aus. Gleichwohl soll man den Mord nicht beschönigen. Hier in Bayreuth genieße ich den Austausch, denn es kommen nur Künstlerinnen und Künstler zusammen, die unglaublich viel Erfahrung mit Wagners Werken haben. Das ist für mich enorm bereichernd. Vor, zwischen und nach meinen Proben schaue ich immer in die Proben der anderen Produktionen hinein. Ich freue mich einfach, dabeizusitzen, mit offenen Ohren zuzuhören und zu genießen.
Bayreuth hat ja ein sehr begeisterungsfähiges, aber eben auch sehr Buh-freudiges Publikum. Wirken solche starken Buh-Rufe, wie es sie vor kurzem nach der Götterdämmerung gegeben hat, auch nachträglich negativ auf die Künstler aus?
Das soll man nicht überbewerten. Wenn im Festspielhaus 200 Leute buhen, und das wäre schon recht viel, dann sind das immer noch nur 10% vom Gesamtpublikum. Das langgezogene „U“ eines Buhs ist ja sehr laut und übertönt oft die Bravo-Rufe. Ich freue mich, dass weltweit darüber diskutiert wird, was bei den Bayreuther Festspielen passiert. Solange die Menschen zu uns kommen und die Aufführungen erleben wollen, haben wir wohl nicht alles falsch gemacht. (lacht) Daher sage ich denen, die unglücklich über eine schlechte Kritik oder eine ablehnende Publikumsreaktion sind: « Schaut mal, es ist doch toll, dass wir etwas machen, das so relevant ist, dass es große Reaktionen hervorruft.“ Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, dass wir über viele Jahre etwas vorbereiten, und niemanden interessierte es. Natürlich ist es vor allem für Sängerinnen und Sänger schmerzhaft, wenn sie Buhs bekommen. Als Dirigent einer Produktion und besonders als Generalmusikdirektor in Stuttgart fühle ich mich verantwortlich für viele Menschen. Daher sehe ich es als meine Aufgabe, mit den Mitwirkenden einer Produktion zu sprechen, wenn sie nach einer Aufführung unglücklich sind, und sie wieder aufzubauen. Ihnen das ehrliche Gefühl zu vermitteln, dass ich hinter ihnen stehe und ihre Leistung toll finde. Das Wichtigste bleibt aber bei allem, dass wir guten Gewissens in den Spiegel schauen können und überzeugt sind, dass wir unser Bestes gegeben haben, um dem Werk zu dienen.