Ein Interview von Alain Steffen
Cyprien Katsaris, Sie haben in den Sechzigerjahren am Pariser Konservatorium studiert. Hat man sich damals dort in Sachen Studien und Interpretation eigentlich wesentlich von der deutsch-österreichischen Schule unterschieden?
Gute Frage! Ich erinnere mich, dass bei uns damals Wilhelm Kempff der absolute Star für das deutsche Repertoire war. Wir haben ihn wie einen Gott angehimmelt. Und erstaunlicherweise wurde Kempff damals in Frankreich mehr geschätzt als in Deutschland, wie mir seine Tochter viele Jahre später erzählte. Das deutsche Repertoire wurde in Frankreich und insbesondere in Paris bestens gepflegt, und jeder Musikstudent musste sich mit Bach, Beethoven, Schumann auseinandersetzen. Auf Schubert wurde weniger Wert gelegt, ich weiß nicht warum. Aber es war der Beginn einer Zeit, wo man weniger Wert auf die spezifischen nationalen Schulen legte. Beethoven sollte wie Beethoven klingen, also im Sinne der deutschen Tradition. Auch wollte man den russischen Komponisten mit einem russischen Klang begegnen. Aber dieses Phänomen war nicht nur in Frankreich zu spüren, sondern überall in Europa. Die typisch französische Schule, die sich ja sehr auf die Finger konzentrierte, begann Anfang der Sechzigerjahre an Gewicht zu verlieren. Die russische Schule arbeitet mit dem ganzen Körper, also mit weitaus mehr Kraft. Der französische Professor Pierre Sancan war der erste, der seinen Schülern die russische Technik beibrachte. Ich selbst habe bei der holländischen Professorin Aline van Barentzen studiert, die einer Vertreterin der französischen und deutschen Schule war. Danach kam die Pianistin Monique de la Bruchollerie, die Vladimir Horowitz sehr verehrte und auch oft mit ihm verglichen wurde. Mit ihr kam eine Pianistin ans Pariser Konservatorium, die sowohl die französische wie auch die deutsche und russische Schule beherrschte. Und diese französische Pianistin hatte weitaus mehr Erfolg in Deutschland als in Frankreich. Bei mir war es ähnlich, meine Karriere entwickelte sich relativ schnell in Deutschland, während es in Frankreich nur sehr zögernd voranging.
Damals standen die großen Pianisten für eine Schule, einen besonderen Stil, während man bei den heutigen Pianisten diese Interpretations- und Spieltraditionen viel weniger ausmachen kann.
Ich glaube, da soll man differenzieren. Es stimmt, wie Sie sagen, dass es die typischen Schulen oder Stilrichtungen nicht mehr gibt, oder besser, dass sie sich untereinander vermischt haben. Martha Argerich, die aus Argentinien kommt, spielt Rachmaninov ebenso gut wie ein russischer Pianist, und Grigori Sokolovs Beethoven ist mustergültig. Die Musiker und die Konservatorien sind internationaler geworden. Dass es aber trotzdem so viele Pianisten gibt, die keine eigene Persönlichkeit haben, liegt wohl daran, dass sie durch den Druck, schnell Karriere zu machen, sich nicht die Zeit nehmen, sich einen eigenen Stil zu verinnerlichen und vor allem weiterzuentwickeln. Heute ist nicht nur eine Richtung, ein Stil vorgegeben, sondern der Pianist muss sich mit vielen Stilen und Schulen befassen. Man sucht sich aus allen Stilen das Beste für sich selbst heraus. Doch das kostet Zeit und Arbeit und so kommt es, dass viele immer nur an der Oberfläche bleiben. Ein eigener Stil soll dem Pianisten Türen öffnen, sich die Musik anzueignen und zu ihrem Kern vorzudringen.
In Ihrem Repertoire nimmt Liszt eine besondere Stellung ein…
Die kompositorische Brandbreite, mit der Liszt die Klaviermusik revolutioniert, ist musikhistorisch gesehen ohne Beispiel. So benutzt er ungarische Einflüsse in seinen Ungarischen Rhapsodien, beruft sich in seinen immerhin über 50 Liedern auf die größten Literaten seiner Zeit, er hat den Impressionismus vor allen anderen entdeckt, er hat deskriptive Musik geschrieben, er hat die symphonische Dichtung erfunden und er war der erste avantgardistische Komponist überhaupt. Verschiedene Werke wie z.B. ‘Nuages gris’ waren ihrer Zeit einfach voraus. Vor Scriabin, vor Debussy und Schönberg war Liszt der erste, der atonale Musik geschrieben hat. Der größte Rivale Liszts in Sachen Paraphrasen war Sigismund Thalberg, kein begnadeter Komponist aber ein unwahrscheinlicher Virtuose. Im Gegensatz zu Liszt hatte Thalberg während fünf Jahren Gesang studiert und konzentrierte sich in seinem Schaffen fast ausschließlich auf die Umsetzung von Opernarien, die in erster Linie für Musikstudenten gedacht waren. Seine Fantasien und Paraphrasen sind wahre Bravourstücke, nicht besonders schwierig, aber sehr attraktiv. Franz Liszts Transkriptionen und Paraphrasen sind vom kompositorischen Standpunkt hergesehen allerdings wirkliche Kunstwerke.
Aber Liszt hat die Transkription ja nicht erfunden.
Transkriptionen wurden oft vierhändig auf dem Klavier gespielt und erlebten ihre Blüte im 19. Jahrhundert. Einerseits waren sie beliebte Salonstücke, andererseits waren sie wichtig, um die großen Symphonien schnell bekannt zu machen. In Europa gab es damals ein besonders reiches Musikleben. Viele Menschen trafen sich privat, um gemeinsam zu musizieren. Danach wurde dann gegessen und getanzt. Transkriptionen und Paraphrasen, die aber oft ein großes spielerisches Können voraussetzten, waren bei diesen Salonkonzerten sehr beliebt. Die Geschichte der Transkriptionen hat mit Bach begonnen.
Sie selbst spielen sehr gerne Transkriptionen. Sowohl im Konzert wie auch im Aufnahmestudio. Ich denke da an Ihre Einspielung aller Beethoven-Symphonien.
Ich muss zugeben, ich habe nur die ‘Eroica’ und die ‘Pastorale’ im Konzertsaal gespielt. Die Pastorale dreiundzwanzig Mal, die Eroica neunundsiebzig Mal. Überall wollte man das Werk hören. Im Wiener Musikverein, in der Berliner Philharmonie, in der Santory Hall, in Paris, New York, überall waren die Menschen gespannt auf diese Klaviertranskription, die nur ganz selten im Konzert zu hören war. Aber nach neunundsiebzig Mal war dann plötzlich Schluss. Ich konnte nicht mehr, ich hatte Gedächtnisstörungen. Ich habe meinen Agenten angerufen, und wir haben die ‘Eroica’ aus dem Programm genommen.
Warum haben Sie nur die ‘Eroica’ und die ‘Pastorale’ im Konzert gespielt? Sie hatten ja alle Symphonien im Repertoire.
Ganz einfach, weil es eine zu harte und intensive Arbeit war. Die Werke im Aufnahmestudio einzuspielen, war relativ leicht. Viel, viel schwieriger ist es, im Konzert die Beziehung zur Musik immer aufrecht zu erhalten. Gerade eine Beethoven-Symphonie live zu spielen, verlangt einem Pianisten alles an Konzentration und Energie ab.
Der Pianist muss auf seinen Konzertreisen immer wieder auf einem anderen Instrument spielen. Und man weiß, dass ein Bösendorfer anders klingt als ein Steinway oder ein Yamaha. Inwiefern spielen diese klanglichen Unterschiede eine Rolle bei der Interpretation und beim Werk?
Das ist eine sehr komplexe Frage und hier gehen die Meinungen auch auseinander. Es gibt viele die behaupten, man soll das Klavier je nach Werk aussuchen und das ist zum Teil auch richtig. Aber auch der Zustand des Klaviers spielt eine enorme Rolle. Man kann auf dem besten Steinway nicht ordentlich spielen, wenn das Instrument nicht fachgerecht gepflegt wurde. Und somit kommt dem Klavierstimmer eine ganz wichtige Rolle zu. Der bekannte Pianist Arturo Benedetti Michelangelo sagte, dass ein erstklassiger Klavierstimmer genau so selten ist wie ein erstklassiger Pianist. Natürlich ist es wichtig, dass man bei Rachmaninov ein Klavier zur Verfügung hat, das wirklich voll klingt und man bei Schubert-Sonaten auf einem Flügel spielt, der einen sehr feinen Klang hat, aber letztendlich ist es auch eine Frage des Geschmacks und der Interpretation. Zudem muss man als Musiker so flexibel sein, seine Interpretation den Gegebenheiten anzupassen. Und die hängen ebenfalls sehr viel von der Raumakustik ab. In einem trockenen oder zu halligen Saal kommt der beste Flügel nicht zum Tragen.
Wenn wir jetzt schon von den verschiedenen Instrumenten reden, wie ist Ihr Verhältnis zum Hammerklavier und der historischen Aufführungspraxis?
Ich habe einmal zwei Mozart-Konzerte in Salzburg auf einem Instrument des 18. Jahrhunderts gespielt, aber die Qualität dieser Instrumente reicht nicht an die eines modernen Klaviers heran. Auf einem solchen Instrument kann ich die Botschaft des Komponisten, seinen Willen und die Qualität seiner Musik nicht so wiedergeben, wie ich es möchte oder wie der Komponist es verdient hat. Ehrlich, ich glaube nicht, dass Interpretationen auf historischen Instrumenten wirklich einen Gewinn bringen. Das ist meine persönliche Meinung und es gibt viele Kollegen, die diese Ansicht nicht teilen.
Als Pianist muss man ja nicht nur in Sachen Instrument sondern auch im Bezug auf das Repertoire seine persönliche Auswahl treffen. Gibt es Werke, die Cyprien Katsaris nicht spielt?
Ich muss zugeben, dass ich die Fugen von Bach nicht öffentlich spiele, nicht, weil sie mir nicht gefallen, sondern weil diese außergewöhnliche Musik eine so intensive Gedächtnisarbeit verlangt, dass es für mich ein zu großes Risiko wäre, sie im Konzert zu interpretieren. Je älter ich werde, desto mehr distanziere ich mich auch von der zeitgenössischen Musik. Ich glaube, es wird sehr viel Unsinn komponiert und es wird immer schwieriger, wirklich gute Werke zu finden. Allerdings merke ich auch, dass etliche Komponisten wieder mehr und mehr beginnen, sich auf die alten Traditionen zu besinnen und ihre Musik aus der Sackgasse heraus zu manövrieren versuchen.