Was Tchaikovsky im Jahre 1877 durchmachte, lässt sich nur annähernd erfassen. Es war nicht nur der Umstand, dass seine Ehe mit Antonina Miljukowa nur wenige Wochen dauerte und den Komponisten in Depressionen stürzte, sondern der Fakt, dass er überhaupt – um seine persönliche Sexualität zu übertünchen – diese Ehe einging, die gesellschaftlich wohl ‘richtig’, für ihn, den Menschen Tchaikovsky aber falsch sein musste. Das ließ seine Psyche in ein Gefühlschaos ohnegleichen stürzen. Zumindest einen Teil seiner inneren Aufruhr teilt er uns im ersten Satz der Vierten Symphonie mit. Seine Sprache ist sehr direkt, fast brutal ehrlich. Aber viele Dirigenten haben die Musik bereinigt und das Drama außer Acht gelassen. Nicht so Dmitrij Kitajenko! Was er und das Gürzenich Orchester in den knapp 20 Minuten des ersten Satzes hörbar machen, ist ein Strom völlig unkontrollierter Gefühle. Kitajenko unterstreicht das mit kühnen Rubati und kräftigen Akzenten. So wird der Satz zum Seelendrama, zu einem traumatischen Erlebnis.
Gleich in den ersten Takten ist das Fatum präsent, Hörner und Trompeten sind durchdringender als die des Jüngsten Tages, das Schicksal schlägt unbarmherziger an die Tür als bei Beethoven, und wenn Fagott und Klarinette das Klagen des einsamen Menschen anstimmen, stockt dem Hörer fast das Herz. Dieser Satz hat, so gespielt wie in dieser Interpretation, im literarischen Bereich nur Werke von Tolstoi und Puschkin als gleichwertige Gegenstücke. Der innere Kampf bricht mit ungewohnter Härte über den Hörer herein, die ganze Pein des Komponisten wird in höchster Leidenschaft erfahrbar. Doch Tchaikovsky wäre nicht wer er war, wenn er nicht den Aufschwung zumindest versuchen würde, den das unausweichliche Fatum zunichte macht. Und wenn er am Ende noch einmal dezidierter die Flucht nach vorne antritt – ein schauriger Ritt ist es – lässt Kitajenko kurz vor dem Satzende mit unerhörter Wucht dreimal das Fallbeil niederdonnern. Da sind Mahlers Hammerschläge nichts dagegen.
Der sonst gerne so schön-lyrische zweite Satz ist hier längst nicht so harmlos wie bei anderen Dirigenten. Gar schwer geht manchmal der Atem. Und auch das aufgescheuchte Pizzicato ist bar jeden Unterhaltungscharakters. Es wirkt letztlich sehr irreell, wie ein Tableau mit Schattenwesen, die miteinander spielen, sich necken, sich jagen und auch mal kräftig zanken. Es ist das die Welt, die Tchaikovsky quälte, die ständige Angst, die ihm Bauchschmerzen verursachte, die ihn folterte und ihn manchmal denken ließ, es wäre doch besser, alles hinzuschmeißen und wegzulaufen, was nicht verhinderte, dass er kurz darauf wieder in Hochstimmung war.
Der vierte Satz soll, dem Komponisten zufolge, ein Volksfest schildern: « Wenn Sie in sich selbst keinen Anlass zur Glücksseligkeit finden, blicken Sie auf andere. Gehen Sie unter das Volk ». Doch so richtig will Freude bei Kitajenko nicht aufkommen und wenn das Fatum-Motiv wieder hereinbricht, lässt der Dirigent das so brutal wirken, dass es schmerzt wie ein scharfes Messer, das ins Körperfleisch eindringt. Umso ungehaltener wirbelt Kitajenko uns dann durch die Lüfte, wie eines jener gigantischen Karusselle auf Jahrmärkten, die Musik atemlos dem Schluss entgegenpeitschend.
Von den düsteren und unheilvollen Stimmungen der Vierten Symphonie sind wir in dem zwei Jahre später in Rom entstandenen ‘Capriccio Italien’ weit entfernt. Ich halte es für sehr interessant, wie deutlich in der vorliegenden Interpretation die formale Ambivalenz deutlich wird, zwischen italienischen, für die Russen damals westlichen Themen, und der ‘russischen’ Kompositionstechnik.
Diese SACD ist mithin ein weiteres, sehr hochrangiges Element in Kitajenkos Tchaikovsky-Gesamtaufnahme, die demnächst mit der rekonstruierten 7. Symphonie abgeschlossen werden wird.
If some conductors ignore the turmoil of feelings in Tchaikovsky’s Fourth Symphony, Kitajenko certainly does not. Throughout the entire work, the trauma of the composer’s personal situation in the late seventies and his desperate search for bliss are palpable.