Paris ist immer für Überraschungen gut. Im ‘Théâtre des Champs-Elysées’ haben der Dirigent Jérémie Rhorer und die britische Regisseurin Deborah Warner Giuseppe Verdis ‘Traviata’ mit einer sensationellen Besetzung revolutionär erneuert. Remy Franck berichtet.
Die originelle, packende Inszenierung und Rhorers Dirigat liefern an sich schon Stoff genug für eine begeisterte Kritik, doch das Herausragendste an dieser Produktion ist die Gestaltung der Titelrolle durch die 31-jährige französische Sopranistin Vannina Santoni. Darstellerisch und vokal haben wohl noch nicht viele Sängerinnen diese komplexe Rolle so genial interpretiert wie Santoni. Ihre Traviata ist ein permanenter, aber aussichtloser Kampf gegen sich selber, gegen die Gesellschaft, gegen und für die Liebe, gegen ihre unheilbare Krankheit, wobei die Worte ‘Così alla misera ch’è un dì caduta, di più risorgere speranza è muta!’ (Und so wird der Unglücklichen, die eines Tages gefallen ist, jede Hoffnung genommen, wieder aufstehen zu können) eine unglaubliche Bedeutung erhielten, ja quasi als Motto für die ganze Oper zu stehen schienen.
Den musikalischen Rahmen für diese aussergewöhnliche Leistung lieferte Jérémie Rhorer mit seinem den ganzen Abend über spannend musizierenden Orchester auf Originalinstrumenten ‘Le Cercle de l’Harmonie’. Sämtliche Striche und Verzierungen hat der Dirigent rückgängig gemacht, und so erklang die Oper im TCE in ihrer vollen Länge, so wie Verdi sie komponiert hat und mit der Stimmung, die Verdi wollte, nämlich 432 statt der heute üblichen 440 Hertz. Für den Hörer ist das kein großer Unterschied, aber für die Sänger bringt es mehr Komfort.
Das Grundkonzert von Deborah Warner ist die Verdopplung der Figur Violettas durch eine Schauspielerin (Aurélia Thierrée), die quasi ständig mit auf der Bühne ist und die Ereignisse aus der Perspektive der an Tuberkulose erkrankten Violetta im Sanatorium erlebt. Die Bühne ist denn auch auf dieses Sanatorium mit weißen Spitalbetten samt Zubehör begrenzt, und die ganze Oper bekommt damit den Anstrich des Todes.
Das Konzept der Regisseurin geht auf und mit ihrer anspruchsvollen, tiefschürfenden und in jedem Moment wahrhaftigen Personenführung liefert sie eine perfekte Basis für eine in allen Hinsichten überragende Opernaufführung.
Neben der beglückenden Entdeckung der phänomenalen Stimme und Persönlichkeit von Vannina Santoni bleibt vom Rest der Besetzung auch nur Gutes zu sagen. Der italienisch-albanische Tenor Saimir Pirgu sang einen grandiosen Alfredo. Makellose Stimmführung, volle Tiefe und strahlend reine Höhe: die leicht metallisch-kernige, gut fokussierte und angenehm timbrierte, wunderbar lyrische und in ihrer noblen Eleganz wenn nötig auch total leidenschaftliche Stimme war optimal für die Rolle. Pirgu war auch stimmdarstellerisch ein faszinierender Interpret, der sowohl in seinen Soli als auch insbesondere im Duett mit Vannina Santoni emotional sehr bewegend sang.
Eine weitere Entdeckung’ war Laurent Naouri als Vater Germont, der diese Rolle unter der umsichtigen Führung von Deborah Warner quasi neu erfand und ihr eine tragische Dimension gab, die Dimension des Mannes, der zwischen seinen Gefühlen für die eigene Familie, für die sehr wohl erkannte aufrichtige Liebe Violettas zu seinem Sohn in Bedrängnis gerät und quasi nur noch in hilfloser Verwirrung agiert und singt. Eine tolle Leistung eines wie immer auch stimmlich vorzüglichen und hoch musikalischen Sängers.
Die Nebenrollen waren gut besetzt und die ‘Chœurs de Radio-France’ blieben der Partitur ebenfalls nichts schuldig
Und so wird diese ‘Traviata’ in ihrer Gesamtheit als absolute Spitzenproduktion in Erinnerung bleiben, auch wenn die Krönung die erschütternde Violetta Valéry von Vannina Santoni war.