Angesichts der Fülle an Einspielungen Bachscher Passionen darf man heute bei jeder neuen, die hinzu kommt, mit Fug und Recht fragen, welchen Gewinn genau sie darstellt. Und weil mittlerweile von der apokryphen Markus-Passion ebenfalls verschiedene Aufnahmen auf dem Markt sind, muss sich auch die jüngste Einspielung von BWV 247 durch den Gutenberg-Kammerchor und das Neumeyer Consort unter der Leitung von Felix Koch diese Frage gefallen lassen. Allerdings kann sie eine überzeugende Antwort geben.
Die Markus-Passion von Johann Sebastian Bach ist noch immer ein Phänomen, ja fast sogar ein Phantom: Man weiß, dass Bach sie musiziert hat, doch existieren keine Noten. Aufgrund eines wieder aufgetauchten Librettos haben kluge Köpfe in Bachs reichem Œuvre auf die Texte passende Chöre und Arien geortet. Vieles liegt noch immer im Dunkeln, in das diese Aufnahme allerdings Licht zu bringen vermag: An der bislang bekannten Rekonstruktion von Diethard Hellmann aus dem Jahr 1964 und Andreas Glöckner (2001) hat Karl Böhmer weitere Ergänzungen und Änderungen vorgenommen, die er selbst im Einführungstext kundig und detailliert vorstellt. So wächst Bachs Markus-Passion wieder ein Stück weiter.
Die Umsetzung dieser musiktheoretischen und kompositorischen Gedankenspiele überzeugt: Die auf einem Konzertmitschnitt basierende Aufnahme der musikalischen Partien fesselt den Zuhörer vom ersten Augenblick an. Der schlank besetzte Gutenberg-Kammerchor gefällt mit sattem Klang in ausgewogenen Registern und akzentuierter Diktion. Vor allem die Choräle sind gelungen, denn Felix Koch schafft mit jedem Satz eine kleine, vokale Meditation, die das Passionsgeschehen anmutig ausdeutet.
Da die Rezitative nicht erhalten und nicht zu rekonstruieren sind, bedient sich auch die vorliegende Aufnahme eines Sprechers: Wolfgang Vater, der die Passionsgeschichte ergreifend rezitiert – allerdings gänzlich anders als Schauspieler Dominique Horwitz in der gleich angelegten Amacord-Aufnahme aus dem Jahr 2010, der den Text recht uninspiriert ablas. Vater gelingt es hingegen, mit ruhiger Stimme das Markus-Evangelium vor dem geistigen Auge des Hörers derart lebendig werden zu lassen, dass das Fehlen des Continuos in den Hintergrund tritt und die Rezitation der musikalischen Darbietung auf absoluter Augenhöhe begegnet.
Genauso überzeugend werden die Arien von Jasmin Hörner (Sopran), Julien Freymuth (Altus), Georg Poplutz (Tenor) und Christian Wagner (Bass) vorgetragen. Gemeinsam mit dem auf historischen Instrumenten bestechend transparent musizierenden Neumeyer Consort hört man hier Perlen aus Bachs Kantatenwerk – zusammengefügt zu einem neuen Geschmeide. Stellvertretend sei hieraus ein Juwel ins Licht gehalten: die Arie „Ich lasse Dich, mein Jesu nicht“, die Wagner mit seinem wundervollen Bass singt, dessen kernig-elastisches Timbre an den jungen Thomas Quasthoff in tonal schlankerer Version erinnert. Sie schlägt den Hörer mit einem kraftvollen Aufblühen, in dem sich anrührend das innige Solo der Oboe spiegelt, vollkommen in ihren Bann.