Schon oft habe ich im Konzert oder beim Schallplattenhören versucht, das Phänomen Kitajenko zu ergründen, dieses ganz außergewöhnliche und höchst seltene Charisma, das die Orchester zu galvanisieren scheint und sich auch auf das Publikum überträgt. Im Gegensatz zu anderen Dirigenten, die Kraft, Lautstärke und Podiumsakrobatik brauchen, um das Publikum zu interessieren und dabei nicht selten die Musik nur oberflächlich darstellen, wenn nicht gar verunstalten, gibt Kitajenko jedem Ton des Orchesters eine Bedeutung und erzeugt damit eine Spannung, die allein das Publikum stimulieren kann, ohne die Musik in ihrer Substanz zu gefährden. Bei diesem Dirigenten erlangt die Musik immer den Ausdruck des Besonderen. Schade, dass man diese Spannung nicht messen kann… Aber zu spüren ist sie, zu spüren war sie bei einem Konzert des Gürzenich-Orchesters gestern (27. Oktober) in der Kölner Philharmonie.
Das Programm begann mit Bela Bartoks ‘Bildern aus Ungarn’. Dimitrij Kitajenko war der beste Fremdenführer, den sich Ungarn wünschen konnte. Er gab seiner Führung jenen Hauch von mysteriöser Zeitlosigkeit, die dem ‘Abend auf dem Lande’, dem ‘Hirtentanz’ und den anderen Szenen, sogar dem beliebten ‘Bärentanz’ jedes Vordergründige nahm und mit großartigen ungarischen Farben die Seele des Volkes bloßzulegen schien.
Es folgte Sergei Prokofievs Zweites Violinkonzert mit dem exzellenten, aus Moskau stammenden und in Italien lebenden Geiger Sergei Krylov.
Er beeindruckte mit einer makellosen Technik und einer Sensibilität, die es ihm zusammen mit Kitajenko erlaubte, dieses Violinkonzert kammermusikalisch fein zu regulieren und ihm mit präziser Tempoauffassung und fein abgestufter Dynamik jene tänzerische Eleganz zu geben, die den wenig konfrontativen Charakter der Komposition bestens unterstrich.
Nach der Pause stand Rachmaninovs Zweite Symphonie auf dem Programm. ‘Mütterchen Russlands gesamter Weltschmerz’ hat man sie genannt. Entsprechend schwülstig wird sie denn auch nicht selten interpretiert. Andere Dirigenten putschen sie zu höchster Dramatik auf, was sie durchaus wirkungsvoll werden lässt. Dimitrij Kitajenko wählte einen anderen Weg: er ging sehr maßvoll, sehr ernsthaft mit dem musikalischen Material um. Die Symphonie wirkte bei ihm sehr schlank, frei von Pathos und schwerer Süße, aber auch von allen Äußerlichkeiten. Dabei klang diese abgeklärte, fast absolute Musik ganz und gar nicht unverbindlich und war auch nicht frei von emotionalen Aufschwüngen.
Kein Schmachten gab es im ersten Satz, wo die Balance zwischen Gefühl und Dramatik absolut perfekt war und zusammen mit der immer latenten Melancholie das tief Leidenschaftliche der Musik zwingend darstellte. Selten habe ich eine Interpretation dieser Komposition gehört, in der die Stimmungen so differenziert herausgearbeitet wurden und dennoch die übergreifende Architektur und der Gesamtatem der Musik nie in Gefahr waren.
Auch der zweite Satz lebte nicht vom Augenblick, sondern vom Antizipativen, von dem was noch kommen sollte, wobei kein Detail losgelöst war vom Ganzen. Gerade daraus erwuchs die Spannung, die auch diesen Satz auszeichnete.
Das Adagio, ohne Schmalz und ohne Zuckerguss, wurde als Ausdruck tiefster Melancholie zu einer regelrechten musikalischen Traumreise von ergreifender Schönheit.
Im Finalsatz überraschte die Klarheit, mit der Dimitrij Kitajenko den Satz gliederte, es dem Traum aus dem 3. Satz erlaubte, die Finalmusik immer wieder einzuholen und ihr auch streckenweise etwas Mysteriöses und Flirrendes zu geben.
Der sich nach den letzten Klängen entladende Jubel des Publikums zeigte, wie wohl die Botschaft angekommen, wie sehr der Saal in Spannung gesetzt worden war und wie herausragend gut das wie immer exzellente Gürzenich-Orchester Kitajenkos Dirigat auf hohem spieltechnischem Niveau umgesetzt hatte.