Mit Anton Bruckner wurde der österreichische Dirigent Georg Tintner in den Neunzigerjahren weltberühmt, nachdem er jahrelang eher abseits der großen Musikzentren dirigiert hatte. Im Zentrum der Musikwelt, in Wien, hatte freilich alles begonnen. Dann hatten negative Kräfte ihn quasi ans Ende der Welt befördert, nach Neuseeland. Und als er 1987 wieder einmal den Posten eines Chefdirigenten übernahm, diesmal in Kanada, landete er nicht in Montreal oder Toronto, sondern im abgelegenen Halifax. Georg Tintner war ein Außenseiter unter den Dirigenten, unerkannt als einer der Großen, bis vor einigen Jahren das Label Naxos ihn mit der Gesamtaufnahme der Orchester- und Chorwerke Anton Bruckners beauftragte. Die Gesamtaufnahme der Symphonien konnte er beenden, ehe er im Oktober 1999 aus dem Leben schied, weil er mit seiner Krebserkrankung nicht mehr leben wollte. Die Meldung hatte mich damals zutiefst getroffen, stand ich doch zu dem Zeitpunkt in regelmäßigem e-mail-Kontakt mit Georg Tintner und seiner Frau Tanya. Wenige Tage vor Tintners Tod hatte ich einen langen Brief von ihm und seiner Frau erhalten.
Begonnen hatte dieser Austausch gleich, nachdem ich mir die ersten Bruckner- Aufnahmen angehört hatte. Von CD zu CD hatte sich meine Begeisterung gesteigert und immer mehr Fragen aufgeworfen. Ich wollte mehr wissen über diesen Dirigenten. Langsam begann sich dann das Bild Tintners sich zu verdichten. Umrisse wurden klar, Hintergründe deutlich. Aus dem Schatten ward ein Körper.
Georg Tintner. Geboren 1917 in Wien. Mit sechs begann er Musik zu studieren. Die Großmutter soll seine ersten Schritte in den Noten begleitet haben. Sie kannte Johannes Brahms noch persönlich.
Wenig später komponierte der junge Georg bereits. Und wurde Sängerknabe. Den weltbekannten Kinderchor dirigierte er in eigenen Kompositionen.
Mit 13 schon kam er in die Kompositions-Klasse von Josef Marx an der Wiener Musikakademie. Mit 16 bereitete die Wiener Sängerknaben für eine Aufführung der Achten Symphonie Gustav Mahlers unter Bruno Walter vor. Mit 19 wurde er Assistent an der Volksoper und gleichzeitig Schüler von Felix Weingartner. Zwei Jahre später floh der Jude Tintner vor den Nazis zuerst nach Jugoslawien, dann nach England und schließlich nach Neuseeland.
Weitab von Wien, wo seine Karriere so glanzvoll zu beginnen versprochen hatte, wurde er Dirigent bei den ‘Auckland String Players’ und bei der ‘Auckland Choral Society’. 1954 ging er als Chef der Australischen Nationaloper nach Sidney. 1964 kam er in der gleichen Position zurück nach Auckland.
1966 und 1967 war er Chefdirigent des Symphonieorchesters von Cape Town in Südafrika. Die Apartheid-Politik hatte er wohl falsch eingeschätzt. Als er das Übel erkannte, nützte es wenig, dass der engagierte Sozialist und Pazifist protestierte und für die schwarzen Kinder Brot backte. Er ertrug die Situation nicht und kündigte seinen Vertrag. Drei Jahre verbrachte er dann in Europa, genauer in London, wo er die ‘Sadler’s Wells Opera’ (die heutige ‘English National Opera’) leitete. Aber auch der Erfolg mit diesem Haus und regelrechte Triumphe, die er mit großen englischen Orchestern feierte, brachten Tintner nicht zu mehr Karrieredenken. Für ihn zählte stets nur die Musik und die Art, wie er ihr am besten dienen konnte. Auch oder vielleicht gerade im Hinterland.
1971 wurde er auf den Posten des Musikalischen Leiters der ‘West Australian Opera Company’ berufen. Im selben Jahr leitete er das kanadische Jugendorchester und entdeckte seine Liebe zu Orchestern mit jungen Musikern. Er war immer öfter an der Spitze von Jugendorchestern in Kanada, Australien, Hong Kong und Neuseeland zu sehen.
Weitere Etappen waren erneut die ‘Australian Opera’, und das ‘Queensland Philharmonic Orchestra’.
1987 empfahlen junge Musiker, die unter Tintner im kanadischen Jugendorchester gearbeitet hatten, dem Manager des ‘Symphony Nova Scotia’ in Halifax, Georg Tintner als Chefdirigenten zu engagieren. In zehn Jahren hat er diese Formation zu einem der besten kanadischen Orchestern gemacht. Und er hat in Halifax der klassischen Musik zu einer immer noch wachsenden Popularität verholfen. Gleichzeitig dirigierte er viele Konzerte und Opernvorstellungen in Kanada und den USA.
Und dann begann der Dirigent mit der atypischen Karriere für Naxos Bruckner aufzunehmen. Der Außenseiter Tintner kam nicht ins Zentrum zurück, aber sein Name wurde eine jener globalen ‘Trade Marks’, die die Musikwelt prägen. Wer von Spitzenaufnahmen der Bruckner-Symphonien spricht, kommt an Tintner nicht vorbei.
Die Aufnahmen mit dem ‘Royal Scottish National Orchestra’, dem ‘National Symphony Orchestra of Ireland’ und dem ‘New Zealand Symphony Orchestra’ wurden von der Presse weltweit hoch gelobt. Auch ‘Pizzicato’ hatte die Interpretationen Tintners als großartige Aufnahmen gewürdigt. Tintner erweist sich darin als ernsthafter Bruckner-Dirigent, der die Kraft der Musik vor allem durch dynamische Abstufungen und einen entsprechenden Atem erreicht. Alle Einspielungen sind von großer künstlerischer Spannung gekennzeichnet und erlangen jede auf ihre Art eine enorme Aussagekraft.
Auf der ersten CD erklingen die Symphonie Nr. 1 (Originalfassung 1866, Ersteinspielung) und das Adagio aus der Symphonie Nr. 3 in der Fassung von 1876.
Die Einspielung der Ersten Symphonie ist gleich ein besonderer Höhepunkt der Gesamtaufnahme, weil Tintner die Welt-Ersteinspielung der unkorrigierten Originalfassung besorgte, so wie sie 1866 kopiert und vom Komponisten bei der Uraufführung dirigiert wurde. Bis dahin kannte man wohl eine Linzer Fassung, aber der Musikwissenschaftler William Carragan hat diese Partitur als eine revidierte Fassung von 1877 identifiziert. Sie unterscheidet sich von der Urfassung hauptsächlich im Finale.
Georg Tintner dirigiert die erste Symphonie in hohem Maße unbändig, mit viel Elan und Kraftentfaltung, so dass die komplexe Orchestrierung in größter Brillanz zum Klingen gebracht wird und der in diesem Werk versteckte Stürmer und Kämpfer Bruckner offenkundig wird.
Auf dieser CD gibt es ebenfalls noch das Adagio der 3. Symphonie in einer bis dahin unbekannten Fassung aus dem Jahre 1876 zu hören. Tintner überbietet in dieser insgesamt etwas ausgeglicheneren Komposition seine eigene bereits so großartige Aufnahme dieses Satzes. Er gibt der Musik hier eine bewegende Intensität und realisiert einmal mehr – übrigens auch in der 1. Symphonie – die Steigerungen so, dass der Sehnsuchtscharakter dieses langsamen, aber flüssig zu haltenden Satzes überaus gut zum Ausdruck kommt.
Für seine Aufnahme der Zweiten Symphonie wählte Tintner die Originalfassung von 1872 in der Carragan-Version. Der Dirigent kann den Ablauf des Werks dramaturgisch sehr gut steuern und die Symphonie somit sehr zwingend gestalten. Der Klang ist sehr voll und dicht, dabei ausgeglichen und inspiriert geatmet. Ohne Prachtentfaltung, sehr ernst und lyrisch in der Grundstimmung gestaltet Georg Tintner den ersten Satz. Damit kontrastiert das schlank und energisch dahin stürmende Scherzo, in dessen Rahmen Tintner das Trio eher enigmatisch und verunsichernd gestaltet, so wahrscheinlich genau die Unsicherheit Bruckners mit sich selber und seiner symphonischen Kunst treffend.
In dieser Aufnahme müssen übrigens wir leichte Einschränkungen machen, was die Reinheit der Trompeten anbelangt, die im Scherzo etwas forciert klingen.
Das Adagio steht, wie es Bruckner in der zweiten Fassung dieser Symphonie (1872) vorsah, als dritter Satz. Georg Tintner gelingt es dieses Adagio ungemein stimmungsvoll, fast mystisch transzendierend zu gestalten.
Das Finale ist wiederum ein Musterbeispiel für Tintnersche Steigerungstaktik. Herrlich blühen die Kontraste in diesem Satz auf, in dem Leben und Tod einander so nahe sind, das aber sieghaft in triumphierender Weise beendet wird.
Verhaltene, fast ängstliche Klänge wechseln sich im ersten Satz der dritten Symphonie mit sehr dezidierter und erhabener Gestik ab. Sie in einen Fluss, in einen langen Atem zu bringen, die Spannungen zwischen dem tastenden Vorwärtsschreiten und der Klangfülle der großen Steigerungen spürbar zu machen, das Sanfte jedoch nicht dem Mächtigen einfach gegenüber zu stellen, sondern beides zu verbinden, das gelingt Georg Tintner im ersten Satz dieser etwa ein Jahr vor seinem Tod entstandenen Aufnahme extrem gut.
Das Gefühl innerer Unsicherheit setzt sich im Adagio fort, das Tintner gar nicht nur feierlich gestaltet, sondern in dem er ebenfalls das Konfliktuelle des Satzes zum Ausdruck bringt. Zu diesem Eindruck trägt freilich auch die Verwendung des Original-Manuskripts bei, das im Gegensatz zu den häufiger verwendeten späteren Fassungen einen unkastrierten Bruckner zu Gehör bringt. Besonders auffallend ist das im Finale, dessen Kontraste Tintner dramatisch herausarbeitet.
Das Orchester erledigt sich seiner schwierigen Aufgabe recht gut und die Tonaufnahme ist räumlich und hat eine dem Werk angepasste Tiefe.
Ernst Decsey hat vom ortlosen Horn gesprochen, das wie von einem unbetretbaren Ufer herüberweht. Und genau diesen Eindruck macht das Horn in Georg Tintners neuer Aufnahme der Romantischen Symphonie, der Vierten, so wie der Dirigent überhaupt das Mysteriöse, die Lichtspiele, ja den ganzen Zauber der Naturromantik herausstreicht, unaufdringlich, mit permanent gedrosselter Klangkraft. Tintner lässt die Musik sich völlig natürlich ausbreiten, pulsierend, aber nie drängend.
Das Andante quasi Allegretto geht melancholisch, aber nicht schmerzvoll dahin. Das Scherzo ist bei Tintner kein schnelles helle Freude-Stück, sondern da mischen sich schon auch andere Gedanken ein, so als wollte der Dirigent diesen Ausbruch der Freude anfangs nicht so richtig wahrhaben. Doch dann wird die Musik immer humoriger um nach viel Ländlerseligkeit im Trio und erneutem Scherzo in die grandiose Welt des letzen Satzes hin zu führen. So furios wie sich Tintner in diesen Satz stürzt, fragt man sich, wie er da wohl noch Steigerungen schaffen wird. Aber er will gar nicht steigern, bleibt ‘terre à terre’. Die Welt wird hier nicht in den Himmel erhöht (Decsey), sondern wir machen eine Gipfelwanderung mit festem Schuhwerk, hin und wieder eine Jause und schon geht’s weiter durch die Natursymphonie… Und dann, ganz zum Schluss, kommt es doch noch zu neuem Elan, zum großen Jubel.
Die Aufnahme ist technisch tadellos, das Orchester von sehr guter Qualität.
Die Unterschiede zwischen Licht und Dunkel, zwischen Bestimmtheit und scheuem Zögern, zwischen verhaltener und hymnischer Sprache kommen in einer kontrastreichen Version der 5. Symphonie voll zur Geltung.
Doch der Dirigent vollzieht die Brüche nicht abrupt (wie Karajan in seiner Live-Aufnahme mit den Wiener Symphonikern), sondern eher bedächtig, die Anstrengung des Komponisten nachvollziehend, so wie er auch die Schwermut im Adagio treffend wiedergibt. Das Scherzo nimmt bei Tintner eine fast unwirkliche Form an. Die Risse überspannt er, die Erdenlust überfliegt er wie im Traumtanz. Und im Finale, in diesem langen Rückblick, lässt er sich Zeit und Kraft für das Overcoming der Probleme. Der Schluss soll die Krönung sein, und sie wird nicht vorweggenommen.
Eine schlüssige und persönliche Deutung, die das Monumentale reduziert, um Steigerungen länger und ergreifender zu gestalten. Diesen langen Atem haben wirklich nur die wenigsten Dirigenten.
In der Sechsten Symphonie versteht es Tintner einmal mehr, die musikalische Substanz zu destillieren und uns einen auch strukturell gut disponierten Bruckner zu präsentieren.
Der Dirigent schreibt im Einführungstext zu seiner Aufnahme der Sechsten, diese gehöre trotz des unbefriedigenden Finales zu den Schönsten und Originellsten des Brucknerschen Gesamtwerks, auch wenn sie recht wenig aufgeführt werde. In der musikalischen Realisation geht Tintner dann mit fast missionarischem Eifer daran, aufzuzeigen, mit welch herrlicher Schöpfung wir es hier zu tun haben. Frohe, ja hin und wieder sogar enthusiastische Aufbruchstimmung kennzeichnet den ersten Satz wie kaum einen anderen bei Bruckner. Herrlich auch wie der zweite Satz aus sanfter Trauerstimmung in glückliche Zufriedenheit umschlägt. Das ‘unheimliche Scherzo’ (Tintner) gestaltet der Dirigent hochdramatisch und lässt es expressiv mit dem ruhigen Trio kontrastieren. Das Finale beendet in festlicher Freudigkeit dieses Werk, in dem Tintner sich hörbar um einen besonders brillanten und prächtigen Klang des Orchesters bemüht hat. Das ‘New Zealand Symphony Orchestra’ spielt mit Feuereifer, bleibt aber dem Werk einiges an Farben schuldig,
Schon in den ersten Takten der Aufnahme der 7. Symphonie deutet sich eine künstlerische Spannung an, die dann die ganze Symphonie durchzieht und bindet. Selten habe ich diese an Themen und Motiven strotzende Siebte so kohärent, so geschlossen, so schlüssig und logisch gehört wie in dieser Aufnahme.
Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Aufnahme ist wohl Tintners Sinn für dynamische Abstufungen, seine Fähigkeit, das Orchester ‘Mezza voce’ (aber stets intensiv) musizieren zu lassen, durchgehend auf einer Lautstärke die es ihm erlaubt, die großen Steigerungen besser vorbereiten zu können, die Piano und Pianissimo-Stellen besser zur Wirkung kommen zu lassen.
So erlangt diese Symphonie eine enorme Aussagekraft. Im zweiten Satz (Andante) ist dies besonders auffällig. Da läuft es einem dann schon kalt und warm den Rücken hinunter, so zwingend ist die Musik gestaltet, so durch und durch geatmet, aus einem Guss. Tintner verzichtet auf vordergründige Brillanz, er will nicht mit Tonmassen Wirkung erzielen, uns nicht betäuben, sondern wirklich berauscht von dem der Musik innewohnenden Geist Beifall spenden lassen, die Symphonie zum tiefen Erlebens werden lassen. Und das gelingt ihm hundertprozentig.
Als die Aufnahme der Achten Symphonie erstveröffentlicht wurde, war es eine der ganz seltenen Einspielungen der Originalversion
Im ersten Satz forciert Tintner nicht, macht kein lautes Wehklagen aus diesem Allegro moderato, sondern ein nicht allzu düsteres Stück mit einer energischen Coda, die in der 1890er Fassung nicht mehr enthalten ist, auf die ein kraftvoll und klanglich geschärftes Scherzo folgt, mit einem Trio, das ein anderes Thema enthält als jenes der 2. Fassung der Symphonie.
Das Adagio wird in ehrfurchtsvoller Zurückhaltung, fast ohne Akzentuierung, einfach, natürlich gespielt. Keine Ekstase, kein hymnisches Singen, sondern Musizieren frei von Mächten, Musik pur, in Reinkultur. Musik, die umso stärker unter die Haut geht.
Das Finale der Achten ist Bruckners letztes. In der Neunten hat er keines mehr geschrieben. Hat er dies voraus geahnt, als er all jene Energie hier bündelte, als er der Wucht des ersten Themas einen erhabenen Choral gegenüberstellte und aus einer Vielfalt von Motiven eine regelrechte Apotheose komponierte, die Georg Tintner mit dem exzellenten Irischen Nationalorchester spannungsvoll und dramatisch gestaltet?
‘Geheimnis und Todesangst’ kennzeichnen laut Georg Tintner die drei Sätze von Bruckners letzter und unvollendeter Symphonie. Dass uns gerade diese Aufnahme aus dem unnachahmlichen Bruckner-Zyklus vorlag, als uns die Nachricht von Georg Tintners Tod erreichte, macht uns heute noch in hohem Masse betroffen. Und wenn Tintner von der Verzweiflung Bruckners schreibt, wie sollen wir nicht an die Verzweiflung denken, die den Dirigenten in den Tod trieb? Die Musik schnürt uns jetzt den Hals fast zu und jagt einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter, gerade, weil sie in allen drei Sätzen so wenig vergeistigt und so dramatisch, stellenweise fast brutal wirkt, so brutal wie der Tod Tintners. Das Adagio ist in dieser Interpretation ein langer Todesschrei, unterbrochen von ‘ruhigeren’ Passagen, die eher wie fieberiges Flimmern wirken, als dass sie Ruhe ausstrahlen würden. Die Ruhe kommt freilich, ganz zum Schluss in der letzten Minute… Eine zwingende Interpretation, die dieses Werk in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Zu Bruckners Nullter konnte ich lange Zeit kein positives Verhältnis aufbauen. Ich fand zu dem Werk nicht den richtigen Zugang. Das ist jetzt anders. Georg Tintner hat es geschafft. Der österreichische Dirigent scheint diese Komposition – das besagt jeder Vergleich – ernsthafter anzugehen als andere Dirigenten, sie nicht als Experiment anzusehen, sondern bereits als vollgültiges Werk, in dem der Löwe nicht erst einmal die Klauen zeigt, sondern bereits in seiner ganzen Würde dasteht. Tintner gestaltet das Allegro sehr transparent, kraftvoll und (streckenweise) genau so stürmisch, wie es sein muss, um zu packen, um die Brüche durch permanenten Aufbäumen und Niedersinken spürbar zu machen. Das Andante wird ungemein farbig gestaltet, wirkt aber dennoch eher unruhig und sehnsüchtig. So unbeschwert bewegt wie der dritte Satz klingt später kaum noch ein Bruckner-Scherzo. Und in ihn ist einer der seligsten Trios eingebunden, das Bruckner geschrieben hat. Diese Lichtblicke – zu denen weite Strecken des zum Teil aber auch nachdenklicheren Finalsatzes gehören – gestaltet Tintner ohne übertriebene Geste, aber mit viel Vitalität, mit jener prachtvollen Ehrlichkeit, mit der Bruckner seine ersten Symphonien schrieb.
Anton Bruckners Symphonie Nr. 00, ein Studienwerk, das er als Aufgabe für seinen Kompositionslehrer Kitzler schrieb, ist alles andere als ‘Bruckner’. Das wenig gespielte Werk würde der, der es nicht kennt, als ein ihm unbekanntes Werk Schumanns, vielleicht auch Mendelsohns identifizieren. Dennoch ist diese Symphonie durchaus kein unoriginelles Werk, und Georg Tintner weist im Textheft mit Recht auf die Qualität des Scherzos hin.
Eine weitere Rarität ist auf dieser CD zu hören: die zweite Fassung (1878) für das Finale der 4. Symphonie, der Bruckner den Namen ‘Volksfest’ gab. Sie ist kürzer und einfacher als die erste und vor allem die letzte Fassung und weicht erheblich von dieser ab, auch wenn sie dasselbe Themenmaterial verwendet. Es ist für den Bruckner-Freund sehr interessant zu hören, wie Bruckner bei identischen Zutaten mit einem anderen Rezept eine ganz andere Musik zubereitet hat.
Georg Tintner investierte sein ganzes Talent in beide Werke, die ’00’ und das ‘Volksfest’, um beiden Experimenten eine interpretatorisch solide Basis zu geben. Eine außergewöhnliche CD, die jeden Bruckner-Freund interessieren muss.
Als Beigabe gibt es der aktuellen Box ein hochinteressantes Referat, das der Meister 1974 für die Musiker des ‘National Youth Orchestra of Canada’ hielt. Es beinhaltet eine Beschreibung von Anton Bruckners Leben sowie eine detaillierte Analyse des langsamen Satzes der 7. Symphonie.