Toshio Hosokawa ließ sich für sein neuestes Stück von Edgar Allen Poes bekanntem Gedicht ‘The Raven’ inspirieren. Darin wird das ‘Lyrische Ich’ nach dem Tod seiner Geliebten von einem Raben aufgesucht, der auf alle Fragen mit ‘Nevermore’ (Nimmermehr) antwortet. Belastet durch den Verlust der Geliebten und die aufwühlende Beschäftigung mit okkulten Büchern legt sich das ‘Lyrische Ich’ schließlich in den Schatten des Rabens und wird nie wieder aufstehen.
Herr Hosokawa, Sie haben zunächst in westlich-europäischer Art komponiert und dann auch die japanische Musikkultur miteinbezogen. Wie kam das?
Als Kind hörte ich traditionelle japanische Musik. Doch das war zeremonielle Musik, und ich sah sie gar nicht als richtige Musik an. Ich habe früh Klavierunterricht bekommen und europäische Musik gespielt und geliebt. Mozart, Beethoven, das war für mich wirklich Musik. Es wurde mir relativ früh klar, dass ich nach Europa gehen musste, um dort Musik zu studieren, um mir dort die europäische Art zu komponieren anzueignen. Ich dachte damals nicht, dass ich mich jemals mit japanischer Musik beschäftigen würde, geschweige denn meine eigene Musik aus der japanischen Tradition heraus entwickeln könnte. In Europa habe ich die neue europäische Musik kennen gelernt. Durch das intensive Beschäftigen mit dem Klang habe ich hören gelernt und schließlich auch die japanische Musik anders betrachtet und ihre Schönheit entdeckt.
In Europa habe ich auch gelernt, über meine Herkunft und über meine kulturellen Wurzeln nachzudenken. Das macht man nicht, wenn man in Japan lebt. Japan ist eine sehr geschlossene Gesellschaft. Ich habe auch in Europa traditionelle japanische Musik gehört und ohne das Zeremonielle drum herum zum ersten Mal als wirkliche Musik wahrgenommen.
Wann haben Sie überhaupt zum ersten Mal das Bedürfnis verspürt, Komponist zu werden?
Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, war ich ein großer Fan von Seiji Ozawa und habe alle seine Schallplatten gesammelt. Er hat auch Messiaen und Takemitsu aufgenommen, und durch diese Musik bin ich auf den Gedanken kommen, dass ich eigentlich selber Musik komponieren wollte.
Was hat sich, nachdem Sie die japanische Musik als Musik entdeckt hatten, in Ihrem Kompositionsstil verändert?
Eigentlich hatte meine Musik auch zuvor schon einen asiatischen Touch, nur wusste ich nicht, woher das kam. Das intensive Beschäftigen mit der Musik meines Landes hat mir vor allem ein neues Zeitgefühl gegeben. In der europäischen Musik gibt es immer eine ständige Entwicklung. In meiner Musik gibt es viel Meditation und keine große Entwicklung. Ich sage immer, unser Zeitgefühl ist wie eine kreisende Zeit, sie bleibt an einem Ort, auch wenn sie kommt und geht. Auch die Klangfarben sind für mich sehr wichtig Es geht mir darum, jeden einzelnen Ton richtig zu hören.
Ihre Werke tragen oft Titel, die mit Landschaften im Zusammenhang stehen. Ist Landschaft für Sie ein Bild oder lebendige Natur?
Beides! Das ergibt eine Klanglandschaft. Eine Landschaft zwischen Klang und Klang. Es ist nicht wie in der europäischen Musik, wo der Komponist wie ein Architekt ein Klanggebilde entwirft, wo das Ganze eine Bedeutung hat. Bei meiner Musik haben jeder einzelnen Ton und jede Pause eine Bedeutung.
Wie wichtig ist Stille?
Meine Musik ist eine Kalligraphie. Jeder einzelne Ton in ihr besitzt eine Form für sich, ist Punkt oder Linie, mit dem Pinsel auf eine weiße Leinwand des Schweigens gemalt. Die weiße Fläche ist genau so wichtig wie der Pinselstrich, und der Bogen, den die Hand über de Malfläche macht, ohne zu malen, gehört dazu, auch wenn man ihn nicht sieht. Die Stille ist genau so wichtig wie es die Klänge selbst sind.
Was inspiriert Sie?
Natur ist das Wichtigste. Blumen, Wasser, Meer… Als japanischer Künstler suche ich immer die Einheit mit der Natur. Aber auch Literatur inspiriert mich, in erster Linie Gedichte.
Sie sagen, die Natur inspiriert Sie am meisten. Gehört da auch die Naturkatastrophe dazu, von denen ja gerade Ihr Land nicht verschont bleibt?
Natur ist nicht nur ein Segen für die Menschheit, sondern ruft auch Furcht hervor. Und die japanische Tradition beinhaltet viel Ehrfurcht gegenüber der Natur. Davon ist viel verloren gegangen durch Modernisierung und Technologie. In meiner Musik will ich ein neues Bewusstein gegenüber der Natur erwecken. Ich will mitteilen, dass der Mensch harmonisch mit der Natur zusammen leben muss. Der Mensch ist ein Teil der Natur. Daraus entwickeln sich meine Emotionen. Ohne Mensch gibt es keine Natur. Natur ist nicht nur draußen, sondern in mir.
Was können Sie zu ‘The Raven’ sagen?
Als ich ‘The Raven’ von Edgar Allan Poe las, erinnerte es mich an japanische No-Theaterstücke. Deren Blick auf die Welt ist nicht anthropozentrisch; einige der Hauptcharaktere im No sind vielmehr Tiere und Pflanzen, andere sind unirdische Geister. Ich habe daher für die Vertonung dieses Gedichts die dem No-Theater nahe Form des Monodramas für Mezzosopran und Ensemble gewählt. Poe beschrieb den Prozess des Zusammenbruchs der modernen Welt als Konsequenz einer ‘Invasion’ dieser Welt durch ein seltsames Tier, das in einer anderen Dimension lebt – den Raben. ‘The Raven’ ist daher für mich auch ein Gespräch zwischen Mensch und Natur. Wir können den schwarzen Vogel zwar nicht verstehen, aber es gibt dennoch einen Austausch. Auch das gehört zur japanischen Tradition. Das ist etwas ganz Normales für uns. ‘The Raven’ steht für die Katastrophe des modernen Menschen. Er glaubt zwar alles zu beherrschen, aber er versteht den Raben nicht.
Sie sind ein weltberühmter Komponist und könnten so ein Werk eigentlich vielen Ensembles widmen. Sie haben es dem Luxemburger Ensemble ‘Lucilin’ gewidmet. Warum?
Für mich ist die Freundschaft mit Musikern sehr wichtig. Und jedes Mal, wenn ich komponieren, möchte ich das Werk guten Freunden widmen. Die Musiker des Ensembles ‘Lucilin’ sind meine Freunde. Und sie sind sehr gute Musiker. Und daher wollte ich diese Freundschaft weiter entwickeln mit Musik.