Von 2008 bis zum Sommer 2018 war Yannick Nézet-Séguin Chefdirigent in Rotterdam. Diese Zusammenarbeit wird nun von Deutsche Grammophon auf sechs CDs dokumentiert. Eine Reihe von CDs des kanadischen Dirigenten mit dem holländischen Orchester wurden bereits veröffentlicht, aber der Inhalt dieser Box ist neu auf dem Markt.
Die erste enthält Shostakovichs Vierte Symphonie, die als eines der erschütterndsten und tragischsten Werke des Komponisten gilt. Nézet-Séguin macht aus der Partitur aber letztlich vor allem etwas Spektakuläres. Er dringt nicht so tief in das Werk ein wie Kitajenko, Jansons oder Rattle. Er berauscht sich und uns mit der Klanglichkeit der Musik, er zeigt weder ihre grotesken Seiten noch ihren beißenden Humor, er bleibt also an der Oberfläche, interessiert sich für den Ideenreichtum Shostakovichs, für seine brillante Orchestrierung und für die Virtuosität der Musik.
Als Beispiel diene uns der dritte Satz: bei Nézet-Séguin erhält er streckenweise einen Charakter von Panik, aber während solche Gefühle bei Kitajenko und Jansons andauern, hält die Beklemmung in der Rotterdamer Aufnahme nie sehr lange an.
Bei Nézet-Séguin spürt man das dramatisch Böse sehr vordergründig, bei den anderen genannten Dirigenten wird eine Tiefe spürbar, und damit eine Dimension der Tragik, die es in der Version aus Rotterdam nicht gibt. Dennoch: rein orchestral bleibt die Aufnahme nicht ohne Wirkung.
Die zweite CD enthält die 10. Symphonie von Gustav Mahler in der Aufführungsversion von Deryck Cooke. Der erste Satz ist spannungsvoll, schmerzverzerrt. Das Scherzo mischt Nostalgie, Ironie und Trauer, das Purgatorio ist nur noch Zynismus und Verzweiflung, die auch das 2. Scherzo nicht vertreiben kann. Die abgrundtiefe Tragik realisiert Nézet-Séguin im Finalsatz, in dem am Anfang jeder Versuch, die düstere Stimmung aufzulockern, brutal niedergeschlagen wird. Aber unter dem letzten Hammerschlag wächst ein zartes Musikblümchen, das der Dirigent liebevoll und zärtlichst hegt und pflegt und das weitere Hammerschläge nicht mehr aus der Welt schaffen können, wobei man nicht weiß, ob es letztlich nicht doch nur ein Todesblümchen ist. Nach dem beklemmenden Finale kann man nur eines noch: tief durchatmen und still sitzen bleiben…
Die dritte CD beginnt mit einer federleicht, flott und flitzend gespielten Weltersteinspielung von Mark-Anthony Turnages Klavierkonzert, gefolgt von einer schlanken, hitzig-dramatischen Version von Tchaikovskys ‘Francesca da Rimini’. Turnages Konzert ist in den Ecksätzen (Rondo Variations und ‘A Grotesque Burlesque’ ein sehr virtuoses und leicht-verspieltes Werk. Der zweite Satz, ‘Last Lullaby for Hans’, ist eine Hommage an Hans Werner Henze, der für Turnage ein wichtiger Mentor und Förderer war.
Bartoks Konzert für Orchester eröffnet das Programm der 4. CD. Es ist eine unglaublich spannende und inspirierte Aufnahme. Nézet-Séguin gestaltet jede noch so kleine Phrase bedeutungsvoll, gibt der Musik ungemein viel Relief, aber das haben andere auch gemacht. Was hier so fasziniert, ist das Gefühl beim Hörer, dass er die Realität verlassen und mit den Musikern wirklich zu Höherem abgeboben hat, sich mit ihnen in einer Welt bewegt, die reine Musik ist und den Rezensenten an die Grenzen des sprachlichen Mediums bringt. Ich bin wirklich in Sprachnot, um das zu beschreiben, was man in dieser Aufnahme erlebt…
Die Achte Dvorak finde ich ein bisschen zu blumig, zu putzig verweichlicht.
Mit dem ‘Orchestre Métropolitain’ aus Montreal hatte Nézet-Séguin schon packende Aufnahmen von Bruckners Siebter und Neunter Symphonie präsentiert. Kollege Alain Steffen hat sie als « unerhört schön und erhaben » bezeichnet und gut für eine « transzendentale Erfahrung ». Ganz so begeistern kann mich Nézet-Séguin mit seiner Achten aus Rotterdam nicht, aber es ist zweifellos eine sehr gute Einspielung, mit einem über 28 Minuten langen Adagio, das tief empfunden ist und eben auch die Charakteristik des ‘schönen Klangs’ beinhaltet.
Eine von knisternder Spannung durchzogene Aufnahme der ‘Nocturnes’ von Debussy führt zu Haydns 44. Symphonie, die in einer klassischen und vital-rhetorischen Interpretation zu hören ist.