Wenn man allein die Anzahl der Werke als Maßstab nähme, dann war Tchaikovsky mit neun, je nach Zählweise der Versionen auch zwölf Opern inklusive Fragmenten und Schauspielmusiken vor allem ein Komponist von Bühnenwerken, wenn man seine (nur) sieben Symphonien, drei Ballette bzw. ebenso viele Streichquartette dagegenstellt. Aber die Quantität ist sicherlich nicht allein entscheidend.
Neben den großen und bekannten Opern ‘Eugen Onegin’ und ‘Pique Dame’ werden auch die weniger bekannten Werke sowie Fragmente vorgestellt, wie sein erstes Bühnenwerk, ‘Der Wojewode’, das der Komponist selber verbrannte, weil er es zu schlecht fand. Aus überlieferten Stimmen wurde eine Partitur rekonstruiert.
Diese Sammlung der Aufnahmen vom Großen Theater aus Moskau, also dem Bolschoi, wäre für einen Ethnologen vielleicht eine Fundgrube. Wenn ein Ethnologe einen Eingeborenenstamm ohne Kontakt zur Außenwelt findet, an dem er ursprüngliche Gesellschaftsformen studieren kann, wäre er begeistert. So könnte man auch die Aufnahmen der Zeit von 1936 bis 1963 sehen, die in der Sowjetunion ohne beständigen künstlerischen Kontakt zum Westen aufgezeichnet wurden. Sie zeigen ein authentisches Bild, wie die russische Musik von Russen verstanden und gespielt wurde. Ein weiteres Plus ist damit natürlich auch die natürlicherweise fabelhafte Aussprache der Texte.
Interessant ist diese Sammlung auch unter dem Gesichtspunkt der Stilistik. Teilweise kann man die Charakteristik von Nummernopern erkennen, andere wie ‘Mazeppa’ sind durchkomponiert, Tanzmusik wie bei dem von ihm verehrten Mozart findet sich ebenso wie russische Folklore. Selbst Leitmotive wie bei Wagner fehlen nicht. Der Komponist selber bezeichnete seinen ‘Onegin’ als lyrische Szenen, der drei Einakter über die Gemütszustände jeweils einer Person vereint. Gemeinsam ist allen Werken, dass sie Gefühle und Stimmungen vertonen und Personen aus dem täglichen Leben zeigen und damit wahre und normale Russen, keine Herrscher oder Helden.
Die technische Rekonstruktion liefert ein von allen Nebengeräuschen, Rauschen, Knistern, freies Erlebnis. Trotzdem lässt sich das Alter der Mitschnitte nicht leugnen. Der Klang ist dumpf und wenig transparent. Die Orchestervor- und -zwischenspiele sowie die Chorpartien haben einen insgesamt erfreulichen Klang, ebenso die Ensemblestücke. Die Soloarien sind von unterschiedlicher Güte. Besonders die Frauenstimmen klingen teilweise spitz, was ich trotzdem nicht allein auf die noch nicht so gute Technik schiebe, sondern eher den damals teilweise gepflegten Stil. Denn die Einspielung von ‘Cherevichki’, eine der ältesten Aufnahmen, oder einigen anderen bietet deutlich angenehme Damentöne. Auch das Orchester spielt in unterschiedlicher Qualität. Insbesondere gibt es Augenblicke, in denen die Wildheit der Situation auf der Bühne sich im Orchestergraben durch wenig homogenes Spiel spiegelt. Im Großen und Ganzen sind die instrumentalen Leistungen jedoch ausgezeichnet, auch mit schönen Soli bei Holzbläsern und vereinzelt den Streichern.
Der Schuber mit 22 CD ist auch für den Rezensenten eine Herausforderung. Mit mehr als 24 Stunden Musik und schwankender Qualität von Werken und Aufnahmetechnik kann man sich an vielen Stellen freuen, an manchen eben auch weniger. Die Darbietungen zeugen jedenfalls davon, dass das kulturelle Erbe der Heimat Russland mit besonderer Sorgfalt und Hingabe gepflegt wurde.
Die ersten drei Opern von Tchaikovsky, ‘Der Wojewode’, ‘Undina’ und ‘Oprichnik’, also der Leibwächter, fielen durch und Tchaikovsky selber war sein größter Kritiker. Erst mit ‘Tcherevichki’, (Die Pantöffelchen), aus einer Überarbeitung von ‘Wakula der Schmied’ entstanden, war er selber zufrieden.
Der erste große Erfolg gelang ihm mit einer seiner ersten Vertonung eines Pushkin Stoffes, nämlich ‘Eugen Onegin’, hier in der zweiten Version aufgenommen. Dann kam mit der ‘Jungfrau von Orleans’ wieder ein weniger gefragtes Werk. Mit ‘Pique Dame’ schuf er dann wieder eine sofort bis heute positiv aufgenommene Oper. Diese Aufnahme ist übrigens die erste Gesamteinspielung überhaupt dieses Werkes und insofern bedeutsam.
Der folgende Einakter ‘Iolanta’ gehört dann wieder zu seinen weniger geschätzten Werken, ebenso ‘Mazeppa’ und ‘Tscharodeika’ (Die Zauberin). Neben diesen Opern finden sich in der Sammlung noch Bühnenmusiken zu ‘Snegurochka’ (Schneewittchen), ‘Hamlet ‘sowie ‘Romeo und Julia’. Weitere Beigaben sind der ‘Chor der Blumen und Insekten’, ein Fragment zu ‘Mandragora’ und noch einzelne Arien etwa aus ‘Pique Dame’, die in anderer Besetzung bestimmte Sänger gesondert zeigen und auch lohnenswert sind. Das berühmte Liebesduett aus ‘Romeo und Julia’ wird in einer süffig intensiven und einer subtil feingliedrigen Interpretation direkt hintereinander gezeigt.
So ist diese Kollektion vielleicht nicht unbedingt etwas für jedermann, sondern für diejenigen, die an Tchaikovsky, am Bolschoi, an den Aufnahmen aus den russischen Archiven oder an mehreren dieser Punkte interessiert sind. Möchte man nur ein bekanntes Werk kennenlernen, empfiehlt sich sicherlich eine neuere Aufnahme nur dieser Oper.
Editorisch ist ein minimaler Lapsus passiert, da auf dem Schuber und dem Titelblatt des Beihefts der Zeitraum der Aufnahmen korrekt 1936 bis 1963 angegeben ist, auf der Rückseite des Beiheftes nur bis 1954. Das Beiheft gibt eine detaillierte Titel- und Besetzungsliste mit den Arien in Russisch in lateinischer Schrift. Auf Deutsch und Englisch wird ein Abriss über das Opernschaffen im Leben und Zeitgeschehen des Komponisten gegeben. Nur in Englisch werden die Inhaltsangaben der Opern mitgeliefert, aber natürlich keine Libretti und bis auf wenige Sängerfotos keine Angaben zu den Künstlern.