Corinna Niemeyer, alleine über Frauen auf dem Dirigentenpult zu reden, mutet schon einem Klischee an. Wie wichtig ist es eigentlich wirklich, über dieses Thema zu sprechen.
Ich denke, es ist nicht so wichtig speziell über Dirigentinnen zu reden, aber es ist grundsätzlich wichtig, über Frauen in Führungspositionen zu reden. Gibt es Aufstiegsbarrieren und wenn ja wo? Es gibt in vielen Bereichen nach wie vor sehr wenige Frauen in Führungspositionen. Im Vergleich zu den allermeisten Frauen in Führungsrollen ist die Dirigentin sichtbarer, man sieht sie auf der Bühne. Der geringe Prozentsatz an Frauen in Führungspositionen wird also hier sichtbarer als in Vorstandsetagen großer Unternehmen, die Situation ist aber ähnlich.
Sie sind seit 2 Jahren künstlerische Leiterin und Chefdirigentin des Orchestre de Chambre du Luxembourg und waren vorher Assistentin beim Rotterdam Philharmonic Orchestra. Seither hat ihre Karriere einen gewaltigen Sprung gemacht. Sie dirigieren viele internationale Orchester und sind sowohl im symphonischen Bereich wie auch in der Oper eine vielgefragte Gastdirigentin. War eine solche Karriere für eine Dirigentin eigentlich vor Jahren denkbar?
Nein, vor ein paar Jahren wäre das kaum denkbar gewesen. Eine Generation vor mir war Marin Alsop eine Pionierin auf dem Dirigentenpodium. Danach ist Susanna Mälkki gekommen. Und noch einige andere. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man Dirigentinnen an einer Hand abzählen – jetzt… kann man sie schon an zwei Händen abzählen!
Schon zum zweiten Mal gab es jetzt einen Dirigentinnenwettbewerb in Paris mit einem sehr hohen Niveau. Der Wettbewerb hat den Vorteil, dass man nicht nur eine Frau dirigieren sieht, sondern auf einmal feststellen kann, dass es da mehrere gibt, die sich stilistisch genauso voneinander unterscheiden, wie das bei den Männern ist. Natürlich scheint das zunächst einmal keine herausragend neue Erkenntnis zu sein – war doch eigentlich zu erwarten – , aber ich glaube, es war wichtig für Programmdirektoren aber auch Laien, das einfach mal wirklich zu sehen und wahrzunehmen. Als ich studierte, da war ich die einzige Frau. Und wenn man über uns redete, dann gab es den Dicken, den Blonden, den Lockigen und … die Frau (lacht).
Eigentlich hat man die Frau als Dirigentin erst seit 50 Jahren wirklich wahrgenommen. Für mich war es die Amerikanerin Eve Queler, die ich durch Opernaufnahmen kennengelernt habe. Was hat sich seit dieser Zeit alles getan?
Das ist schwer zu beantworten, weil dieser Prozess sich nicht klar abgrenzen lässt und abhängig von der Entwicklung der Gesellschaft ist. Aber es ist sicher, dass vor allem die nordeuropäischen Länder hier eine Vorreiterstellung innehaben. In diesen Ländern wurden Dirigentinnen schon weitaus früher gefördert und künstlerisch anerkannt, als bei uns. Denken Sie eben an Susanna Mälkki, an Anu Tali oder jetzt an Eva Ollikainen beim Isländischen Symphonieorchester und Mirga Grazinytė-Tyla, die das City of Birmingham Symphony Orchestra leitet.
Allerdings gab es auch schon vorher Dirigentinnen….
Ja, es hat immer wieder Dirigentinnen gegeben, aber sie wurden nie wirklich wahrgenommen. Regelmäßig trifft man auf Namen, die man vorher nie gehört hatte. Meistens finden sich leider nur sehr spärliche Informationen zu diesen Frauen. Man weiß von Nadia Boulanger, dass sie regelmäßig dirigierte und auch die erste Frau war, die 1938 das Boston Symphony Orchestra leitete. Als sie gefragt wurde, wie es denn gewesen sei, als erste Frau das BSO zu dirgieren, antwortete sie: « I have been a woman for a litle more than fifty years, and I have gotten over my original astonishment. » Früher hatten die Frauen überhaupt keine Visibilität. Das ist dabei sich zu verändern.
Begegnen Sie eigentlich persönlich noch Vorurteilen, wenn ja, welche Vorurteile sind es?
Wenn es einen blöden Kommentar gibt, gibt es eigentlich fast immer irgendjemanden der die Person zur Raison ruft. Das hat sich sehr zum Positiven verändert. Vorurteile sind heute unterschwelliger. Am einfachsten lassen sie sich beseitigen, bzw. sie kommen gar nicht auf, wenn man in diversen und vielseitigen Teams arbeitet. Vielseitige Teams sind wissenschaftlich erwiesen auch erfolgreicher. Sie beziehen eher unterschiedliche Sichtweisen ein, sie können sich gar nicht in einer Vorstellung einkapseln.
Dirigieren Frauen denn auch anders?
Nein, das kann man gar nicht so pauschalisieren. Dirigieren heißt, einerseits ein Orchester musikalisch zusammenzubringen, andererseits den Gehalt der Musik zu kommunizieren und zum Ausdruck zu bringen. Allein mit der Körpersprache. Insofern hat Dirigieren, bzw. Dirigiertechnik auch etwas mit dem Körper zu tun. Jeder muss ein für ihn passendes Bewegungskonzept finden. Ein Dicker dirigiert also vielleicht anders als ein Dünner, ein Großer anders als ein Kleiner, ein Junger anders als ein Alter. Trotzdem dirigieren auch nicht alle Dünnen gleich, ganz und gar nicht. Jeder hat seine eigene Körpersprache, sein eigenes Gedankenmaterial, seinen eigenen Interpretationsansatz. Diese Vielfalt konnte man wie gesagt bei dem Dirigentinnenwettbewerb in Paris gut beobachten.
Sie waren Assistentin beim Rotterdam Philharmonic Orchstra und hatten somit das Glück, mit exzellenten und modernen Dirigenten wie Yannick Nézet-Séguin oder Lahav Shani zusammenzuarbeiten. In wieweit haben diese Sie beeinflusst?
Ja, natürlich haben mich diese Dirigenten beeinflusst. Zum einen konnte ich genau beobachten, wie sie arbeiten, wie sie ihre Ideen mitteilen und wie sie den Orchesterklang gestalten. Zum anderen durfte aber ich auch aktiv am Prozess teilnehmen. Und indem ich die Vorproben im Sinne der Dirigenten leitete, konnte ich auch das Orchester spüren. Ich lernte, mit einem Klangkörper umzugehen. Und ich habe sowohl musikalisch wie interpretatorisch viel gelernt. Yannick Nézet-Séguin ist sehr bekannt. Aber vor allem ist er den Musikern ein Kollege. Er ist ein äußerst kommunikationsfreudiger Mensch, der das, war er macht, wirklich liebt. Und das merken die Musiker. Lahav Shani ist ebenfalls ein hervorragender Dirigent, der auch sehr kollegial mit jedem umgeht und mit dem es eine große Freude ist, zusammenzuarbeiten. Ich hatte das große Glück, diesen beiden Dirigenten zu assistieren, durfte aber auch eigene Projekte leiten. Das war toll und unheimlich wichtig für mich, denn das Rotterdam Philharmonic Orchestra ist ein erstklassiger Klangkörper von dessen Musikern ich sehr viel lernen konnte. Vor allem, meine eigenen künstlerischen Visionen optimal umzusetzen.
Und François Xavier Roth? Sie waren ja damals beim SWR und sind sicher dann auch sehr früh und sehr intensiv mit der zeitgenössischen Musik in Kontakt gekommen.
Zu François Xavier Roth kam ich schon 2012 während meiner Studienzeit. Bei ihm lernte ich einerseits sehr viel in Sachen zeitgenössische Musik, andererseits auch im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis, wo ich ihm bei Beethoven und Berlioz-Projekten wie Les Troyens mit seinem anderen Orchester Les Siècles, das auf original historischen Instrumenten spielte, assistierte. Diese Flexibilität und Freude, in vielen Stilen zu Hause zu sein, ist mir bis heute geblieben. Aber zuerst hatte ich nur kleine Aufgaben. Mein erstes Projekt mit Roth war die Betreuung eines Kinderprojektes. Ich war dafür verantwortlich, dass alles um das Musikalische herum gut ablief und konnte mit dem Tonmeister zusammen die Balance und Klangqualität einstellen. Nach und nach durfte ich dann selbst das SWR-Orchester bei Vorproben dirigieren, was damals ja das erste große Orchester für mich war. Das war ein einmaliges und ungemein aufregendes Erlebnis. Später assistierte ich François Xavier Roth noch einmal an der Oper Köln bei Mozart’s Le Nozze di Figaro und habe selbst Aufführungen dirigiert. Die Arbeit mit ihm ermöglichte mir persönlich einen sehr natürlichen und konstruktiven Umgang mit der Musik aus allen Stilen und Epochen. Heute liebe ich es ebenso, mit einem klassischen Kammerorchester, wie mit einem zeitgenössischen Ensemble oder einem Barockorchester aufzutreten. Diese Vielfalt ist ungemein inspirierend.
Dazu kamen noch Meisterkurse bei Esa-Pekka Salonen, Bernard Haitink und Riccardo Muti. Was wird denn in solchen Meisterkursen eigentlich gelehrt und wie kann man sich den Ablauf eines solchen Kurses vorstellen?
Ein Meisterkurs dauert zwischen 3 und 7 Tage, wo man mit einem Dirigenten, also dem Kursleiter und einem Orchester arbeitet. Während 2-3 Stunden haben dann fünf Kandidaten die Möglichkeit, jeweils während 20- 30 Minuten ein mit dem Dirigenten abgesprochenes Repertoire zu dirigieren. Der Kursleiter beobachtet, korrigiert, stellt Dirigat und Technik in Frage. Er hilft dem Studenten, seinen persönlichen Klang so gut wie möglich auf technischer Ebene mit dem Orchester umzusetzen. Haitink stellte die Frage: « Was kann man denn wollen?“ Und eben: « Was kann ich tun, um es umzusetzen?“ Er legte sehr viel Wert auf die künstlerische Vision, auf die musikalische Gestaltung, auf das Freilegen der Strukturen und auf die Intensität des Klanges. Ich hatte das Glück, mehrmals mit ihm arbeiten zu können und es war jedes Mal eine außerordentliche Erfahrung.
Was hat Sie denn vor zwei Jahren bewogen, die Leitung des Orchestre de Chambre du Luxembourg zu übernehmen, eines Orchesters, das, seien wir ehrlich, in der Luxemburger Klassikszene noch immer nicht so recht seinen Platz gefunden hat? Wie wird es den vom Publikum wahrgenommen?
Ich bin im Februar 2020 als Gastdirigentin zum OCL gekommen und war von der Qualität und der Offenheit und Begeisterungsfähigkeit der Musiker sehr angetan. Das OCL ist in der Tat ein sehr gutes Orchester mit einem tollen Potential: Wir haben ein treues Publikum, aber wir wollen natürlich auch neue Leute ansprechen. Wir haben als Kammerorchester ein klares Profil und spielen Musik aus allen Epochen, insofern sie für ein Ensemble unserer Größe konzipiert ist. Darunter fallen natürlich das barocke Repertoire, das klassische Repertoire von Haydn, Mozart und Beethoven, aber auch die zeitgenössische Musik und die Musik des frühen 20. Jahrhunderts (Stravinsky, Poulenc, Prokofiev…) , denn gerade in dem Bereich wurde unheimlich viel für Kammerorchester komponiert. Unsere Musiker sind fest im Land verankert und gehen dort meistens auch pädagogischen Aufgaben nach. Wir konzentrieren uns bei unseren Konzerten auf Luxemburg, d.h. die Philharmonie und die regionalen Kulturzentren wie z.B. in Mamer, Echternach, Ettelbruck, Soleuvre oder Esch, aber auch auf die Großregion. In dieser Saison wird das OCL auch eine Opernproduktion an der Opéra Comique in Paris spielen! Und weil unsere Orchestermusiker so begeisterungsfähig und neugierig sind, haben wir keine Schwierigkeiten, neben pädagogischen Konzerten auch innovative, pluridisziplinäre Projekte anzugehen. Aufgrund der Größe von rund 33 Musikern ist das OCL ein sehr flexibles Orchester, das wie ein wendiges, kleines Schiff agieren kann. Wir versuchen, unsere Programme und Projekte für jeden interessant zu machen, für Musikkenner und Konzert-Neulinge gleichermaßen. Und gerade diese Kreativität und Offenheit waren für mich der Hauptgrund, das OCL zu übernehmen. Denn ich habe Lust am Innovativen. Ich glaube, ein Blick in unser Programm lohnt sich und ich freue mich schon, das Publikum auf unsere, sagen wir mal, „Reisen“ durch die Musik mitzunehmen.
Ihre Programmzusammenstellung erweist sich tatsächlich als innovativ und auch themenbezogen und bietet somit ein äußerst interessantes Forum. Was ist denn Ihre persönliche Bilanz nach 2 Jahren, trotz Corona?
Vielen Dank für das Kompliment! Es ist schön zu hören, dass diese Freude an Themen und frischen Zugängen zur Musik in unserer Programmierung schon durchscheint. Es ist auch eine Freude am Geschichten-Erzählen – jedes Konzert bietet irgendwie eine eigene Atmosphäre, Reise oder eben Geschichte.
Natürlich waren die beiden Corona-Jahre auch schwer für das Orchester. Doch ich kann ihnen sagen, und das mit Stolz, dass das OCL alle Eigenproduktionen des Orchesters durchgeführt hat. Natürlich mussten wir immer wieder Programme, Zusammenstellungen und Format verändern und neu zusammenstellen. Es war viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt und alle Konzerte konnten gespielt werden. Unsere Programme für die kommende Spielzeit würde ich unter dem Motto „fröhlicher Entdeckergeist“ zusammenfassen. Und wie immer, spielen auch die Werke von Komponistinnen eine wesentliche Rolle.
Die Rolle der Frau als Komponistin ist also ein Thema für Sie?
Wir haben die Situation, dass Komponistinnen in ihrer Lebenszeit (trotz natürlich herber Einschränkungen) zum Teil sehr anerkannt waren. Häufig wurden ihre Werke gespielt, hochgelobt, aber nicht gedruckt oder verlegt – das wäre aber Voraussetzung für Visibilität und dafür, dass die Werke mehrfach gespielt werden. Die Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat es dann quasi verschlafen, hier Forschung zu betreiben und Werke zu verlegen. Quasi parallel zur wachsenden Akzeptanz der Dirigentinnen verläuft auch das stetig wachsende Interesse für die Musik, die von Frauen komponiert wurde. In unseren Programmen der letzten Saison stand immer ein Werk einer Komponistin auf dem Programm und auch in der kommenden Spielzeit führen wir eine Symphonie der französischen Komponistin Louise Farrenc auf – in Kombination mit dem Violinkonzert ihres Zeitgenossen Robert Schumann. Immer noch sind viele Stücke nicht verlegt, insofern gibt es auf diesem Gebiet noch viel zu tun. Es gibt hier noch eine Menge Pionierarbeit, die darauf wartet, getan zu werden. Das heißt aber auch: Für das Publikum, die Musiker und mich gibt es da also eine ganze Menge tolle Entdeckungen, die wir in den nächsten Jahren machen werden.