Dirk Joeres, Sie haben bei Nadia Boulanger studiert und sind dem Publikum vor allem als Pianist und Dirigent bekannt. 2024 stellen Sie sich auch als Komponist vor. Wieso hat es so lange gedauert, bis Sie zum Komponieren kamen?
Während meiner Zeit als Pianist bzw. später als Dirigent habe ich gelegentlich musikalische Einfälle notiert, ohne die Absicht, daraus etwas zu machen. Dann kam die Corona-Zeit – es ab also keine Konzerte, und da habe ich mich dieser Skizzen erinnert und gefragt, ob die eine oder andere Entwicklungs-Potential habe. Und siehe da: einiges wuchs von vier oder acht Takten zu einer größeren Gestalt. So entstand die aktuelle CD.
Wird es künftig auch andre Werke geben, unter Umständen auch in anderen Gattungen, etwa Kammermusik oder Kompositionen mit Orchester?
Das ist durchaus denkbar – alles eine Frage der Zeit.
Das Spektrum der Komponisten ist heute ganz besonders breit. Wo positionieren Sie sich, und welchem Segment von Zuhörern glauben Sie am besten zu entsprechen?
Meine Kompositionen fallen wohl automatisch in die Kategorie ‘Postmoderne’ oder ‘Neoromantik’. Das sind etwas vage Begriffe, aber ich finde sie sinnvoll, wenn sie die Abkehr von gewissen musikalischen Dogmen implizieren, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so stark waren.
Was die Hörer betrifft: ich würde mich freuen, auch diejenigen für klassische Musik zu gewinnen, die (noch) nicht klassikaffin sind. Deshalb habe ich meinen Miniaturen sehr überschaubare klassische Strukturen zugrunde gelegt, zumeist dreiteilige Liedform.
Was ist Ihre musikalische ‘Abstammung’, wo sind Ihre musikalischen Vorfahren?
Jeder, der heute komponiert, schaut zurück auf eine lange Ahnengalerie. Das bedeutet, dass man das von dort Überlieferte so zusammensetzen, also ‘komponieren’ muss, dass es auf einer neuen Ausdrucksebene erscheint. « Indem ich dem Bekannten die Würde des Unbekannten gebe, so romantisiere ich es“, heißt es bei Novalis.
Gabriel Fauré, in Deutschland leider sehr unterschätzt, war darin ein Meister. Bei ihm kann man auch lernen, dass melodische und harmonische Einfachheit mit großer Ausdrucksintensität einhergehen kann – ein Kennzeichen auch des Spätwerks von Brahms.
Was antworten Sie jemanden, der sagt, Ihre Musik sei keine ‘zeitgenössische’ Musik?
Damit habe ich überhaupt kein Problem. Denn das, was ‘zeitgenössische Musik’ im engeren Sinne ist, steckt meiner Meinung nach seit langem in einer Sackgasse. Übrigens war es niemand anderer als Arnold Schönberg, der einmal sagte: « Auch in mir lebt der heiße Wunsch nach Tonalität oft genug auf, und dann muss ich diesem Drang nachgeben.“
Wann komponieren Sie? Gibt es Momente der Inspiration oder nehmen Sie sich einfach die Zeit dafür?
Alles hängt ab vom Moment der Inspiration – und die lässt sich nicht erzwingen. Johannes Brahms hat das einmal treffend ausgedrückt, indem er sinngemäß sagte: der musikalische Einfall ist etwas, woran der Komponist kein Verdienst hat. Erst durch seine Arbeit macht er ihn zu seinem Eigentum.
Das ist meiner Meinung nach absolut zutreffend: der Einfall ist plötzlich da, ich gehe dann lange spazieren, komponiere im Kopf weiter und entwickle, wenn der Einfall tragfähig ist, einen musikalischen Diskurs, der einen Bogen über das Ganze spannen kann.
Was kann Sie zu einer Komposition inspirieren?
Sehr Verschiedenes: ein anregendes Gespräch, Natur, Erinnerung – aber wie gesagt: der Einfall selbst fällt einem zu, er ist ein Geschenk.