Krzysztof Penderecki: Lukas-Passion (Passio et Mors Domini nostri Jesu Christi secundem Lucam); Sarah Wegener, Lucas Meachem, Warsaw Boys' Choir, Cracow Philharmonic Choir, Orchestre symphonique de Montréal, Kent Nagano; 1 SACD BIS 2287; Liveaufnahme 07/2018, Veröffentlichung 06/2020 (66'52) - Rezension von Remy Franck
Achtzehn Jahre nach der Aufnahme von Antoni Wit bei Naxos und wenige Wochen nach dem Tod des Komponisten veröffentlichte BIS den 2018 bei den Salzburger Festspielen entstandenen Live-Mitschnitt der 1966 uraufgeführten Lukas-Passion von Krzysztof Penderecki, einem der größten Vokalwerke des XX. Jahrhunderts. Penderecki schrieb sie auf einen lateinischen Text und nach dem Muster der Bach-Passionen, mit großem Chor, Solisten und dem Evangelisten als Erzähler. Damals war Penderecki ein Avantgardist, aber keiner, der Musik nur wegen des Experimentierens schrieb, sondern mit dem alleinigen Ziel, durch seine sehr persönliche Tonsprache ein Maximum an Expressivität zu erreichen. Das ist ihm in diesem wie auch in anderen Werken beeindruckend gelungen, und bezeichnenderweise ist er in den Sechzigerjahren wegen der Emotionalität seiner Musik als Reaktionär bezeichnet worden.
In meiner Rezension der Wit-Aufnahme schrieb ich: « In der Passion legt Penderecki viel Gewicht auf die Tragik der Ereignisse und er verdichtet das derart, dass man von der Musik stark ergriffen wird. Das von Chor allein gesungene Stabat Mater etwa ist eine der stärksten Momente emotionaler Musik, die ich kenne, und in der vorliegenden Aufnahme ist es geradezu überwältigend. »
Diese Meinung muss ich jetzt zumindest relativieren. Denn verglichen mit der Naxos-Einspielung aus Warschau ist Naganos Interpretation etwas Grundverschiedenes. Nagano geht es nicht so sehr um Emotionen und Dramatik als vielmehr um Erhebung und Vergeistigung. Das Werk ist bei ihm nicht ein Gebilde aus Einzelereignissen, sondern ein ungemein spannungsvoll wie ein Mysterium zusammengeschweißtes Ganzes, das seinerseits Teil ist des Mysteriums der Passion, Auferstehung und Himmelfahrt Christi.
Gerade das Stabat Mater ist ein gutes Beispiel dafür. Bei Wit erklingt die Musik direkt und unmittelbar. Bei Nagano scheint es ein Engelschor zu sein, der singt. Bei ihm erlangt das Stück einen transzendenten Charakter.
Im April 2019, in meinem letzten, langen Gespräch mit Penderecki, sagte er mir, er habe das Komponieren so gut wie aufgegeben. Wenn er noch etwas komponieren sollte, dann seine Neunte Symphonie, oder, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, vielleicht eher eine weitere Passion. Das Thema beschäftige ihn, seit er seine Lukas-Passion unter Nagano quasi als neues Werk gehört habe.
Penderecki hatte immer eine gewisse Angst, seine Werke von einem Dirigenten ‘interpretiert’ zu hören. Und er sah seine eigenen Interpretationen als die richtigen an. Naganos ‘Interpretation’ und seine völlig neue Sicht auf das über 50 Jahre alte Werk muss den Komponisten jedoch sehr beeindruckt haben, so sehr, dass sie der Auslöser war für den Wunsch, eine weitere Passion zu schreiben, ein Wunsch, der leider nicht Erfüllung ging.
Naganos Orchester aus Montreal, der Chor aus Krakau und die ausnahmslos guten Solisten erreichen einen extrem hohen Grad an Musikalität, an Transparenz und an Spannung, so dass man eine gute Stunde lang dem Geschehen gebannt zuhört, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Bei Nagano ist die Lukas-Passion etwas wie ein unermessliches Ereignis am Himmel, das der Dirigent meditierend und kontemplativ gestaltet.
Die Musik ergreift den Hörer, aber sie durchdringt ihn nicht wie bei Wit, der übrigens 10 Minuten mehr braucht als der Amerikaner (Nagano braucht 66 Minuten, Wit 76). Die Musik verliert dabei nichts von ihrer Integrität, ganz im Gegenteil.
Nur höchstes Lob kann daher dieser Aufnahme zuteilwerden, und wenn Penderecki eine neue Passion schreiben wollte, dann können wir bedauern, dass das nicht geschah, aber uns auch freuen, dass mit Naganos Interpretation der Lukas-Passion gewissermaßen auch schon etwas Neues geschaffen wurde.
Eighteen years after Antoni Wit’s Naxos recording and a few weeks after the composer’s death, BIS released the live recording of the St Luke Passion by Krzysztof Penderecki from the Salzburg Festival 2018. Premiered in 1966, this Passion is one of the greatest vocal works of the XXth century. Penderecki wrote it on a Latin text, following the pattern of the Bach Passions, with a large choir, soloists and the Evangelist as narrator. At that time Penderecki was an avant-gardist, but not one who wrote music only for experimentation, but with the sole aim of achieving maximum expressiveness through his very personal tonal language. He achieved this impressively in this work, as in others, and significantly, he was called a reactionary in the sixties because of the emotionality of his music.
In my review of the Wit recording, I wrote: « In his Passion, Penderecki emphasizes the tragedy of events, and he condenses this to such an extent that the listener is strongly moved by the music. The Stabat Mater, sung by the choir alone, is one of the strongest moments of emotional music I know, and in this recording it is almost overwhelming. »
I must at least put this opinion into perspective now. Compared with the Naxos recording from Warsaw, Nagano’s interpretation is fundamentally different. Nagano is not so much about emotion and drama as he is about elevation and spiritualization. For him, the work is not something made up of individual events, but rather an incredibly exciting whole, tensely welded together like a mystery, which in turn is part of the mystery of the Passion, Resurrection and Ascension of Christ.
The Stabat Mater is a good example of this. With Wit, the music sounds direct and immediate. With Nagano, it seems to be a choir of angels, and the piece gets a transcendental character.
In April 2019, in a last, long conversation with Penderecki, he told me that he had almost given up composing. If there was one more work he should compose, it would be the Ninth Symphony, or, he added after a brief pause, perhaps rather another Passion. This had occupied him since he had heard his Luke Passion under Nagano as a new work, so to speak.
Penderecki always had a certain fear of hearing his works ‘interpreted’ by a conductor. And he regarded his own interpretations as the right ones. But Nagano’s ‘interpretation’ and his completely new view of the over 50-year-old work must have made a big impression on the composer, so much so that it was the trigger for the wish to write another Passion, a wish that unfortunately did not come true.
Nagano’s orchestra from Montreal, the choir from Krakow and the invariably good soloists achieve an extremely high degree of musicality, transparency and tension, so that for a good hour one listens spellbound to what seems to come from another world. With Nagano, the Luke Passion is something like an immense celestial event, which the conductor conducts in a meditative and contemplative manner.
The music takes hold of the listener, but does not penetrate him like Wit, who, by the way, takes 10 minutes more than the American (Nagano takes 66 minutes, Wit 76).
The music loses nothing of its integrity, quite the contrary.
Only the highest praise can therefore be given to this recording, and if Penderecki wanted to write a new Passion, then we can regret that this didn’t happen, but we can also rejoice that with Nagano’s interpretation of the Luke Passion something new has been created, so to speak.