Die Radio-Oper ‘Das Blaue Klavier’ der bulgarisch-luxemburgischen Komponistin Albena Vratchanska Petrovic auf ein Libretto von Matthias Theodor Vogt wurde am 3. Mai 2023 im Bulgarischen Nationalen Rundfunk in Sofia uraufgeführt. Julian Teuremer berichtet.
In der Radio-Oper ‘Das Blaue Klavier’ steht Else Lasker-Schülers gleichnamiges Gedicht am Ende eines Zeitverlaufs, der mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges anhebt und sich noch über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus erstreckt. Damit umfasst er die Zeit der verheerendsten Wirkung der beiden wirkmächtigsten Ideologien des 20. Jahrhunderts, des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Zwei historisch belegte Konzert-Pianistinnen mussten diesen Zeitabschnitt exemplarisch durchleben – Vera Lautard-Shevchenko aus Paris im sibirischen Archipel Gulag, Alice Herz Sommer aus Prag in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Buchenwald. Beide überlebten und erreichten ein hohes Alter. In der Radio-Oper wird an ihrem Beispiel einerseits das von den Ideologien angerichtete Leid konkret, andererseits aber die Kraft, die sie zum Überleben aus ihrer Musik gezogen haben.
Die bulgarisch-luxemburgische Komponistin Albena Petrovic Vratchanska sagt dazu im Interview: « Die Themen des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung liegen mir sehr am Herzen. Eine meiner Lieblingsdichterinnen ist Else Lasker-Schüler (1869-1945), die größte deutsche expressionistische Dichterin, ja sogar größter deutscher expressionistischer Dichtender (ich muss es nicht in der weiblichen Form sagen, denn es gibt keine Dichterin, die ihr ebenbürtig ist, und auch keinen Mann, der ein ebenso guter Expressionist ist). In den Jahren 1933-1935 musste sie Deutschland verlassen. Als die Verfolgung der Juden begann, wurde sie auf der Straße schikaniert. Sie beschloss, Nazi-Deutschland zu verlassen, ging in die Schweiz, bekam aber kein Visum und ging nach Jerusalem, wo sie ihren Lebensweg beendete. Es war ein sehr tragisches Schicksal. »
Petrovic Vratchanska weiter: « Vera Lothar-Shevchenko (1901-1982) war eine französische Pianistin, die in Rom einen sowjetischen Diplomaten kennenlernte und mit ihm als seine Frau in die Sowjetunion ging, als seine Amtszeit endete. Dort wurde er ein Opfer des Regimes – er wurde in den Gulag geschickt. Sie wendet sich an die Miliz, um Informationen über ihn zu erhalten, und wird ebenfalls in ein Lager geschickt. Um im Lager zu überleben, spielt sie in ihrer Fantasie auf einem Brett und stellt sich vor, dass sie Klavier spielt… Sie trifft ihren Mann nie wieder. Nach etwa 30 Jahren verlässt sie das Lager und bleibt in der Sowjetunion − sie kehrt nie wieder nach Frankreich zurück. Sie war ein Opfer des stalinistischen diktatorischen Regimes.
Das andere Opfer war die Pianistin Alice Herz Sommer (1903-2014), eine in Prag geborene Jüdin. Sie wurde 110 Jahre alt. Sie überlebte das Nazi-Konzentrationslager Theresienstadt. Alices Ehemann, ebenfalls ein Musiker, starb in einem Konzentrationslager, und sie war dort mit ihrem kleinen Sohn Raphael Sommer. Nach dem Krieg wuchs er zu einem bemerkenswerten Cellisten heran, starb aber 2001 während eines Konzerts in Tel Aviv. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte sich diese Frau eine unglaubliche Güte und Liebe zur Musik und zum Leben bewahrt.“
Der Film ‘Die Dame in Nummer 6’ zeichnet das Schicksal von Alice Herz Sommer nach.
Man könnte sich fragen, warum Else Lasker-Schülers ‘Das Blaue Klavier’, von dem es schon über 50 sicherlich gut gemeinte Vertonungen gibt, jetzt nochmals aufs Panier gehoben wird. Aber es ist eben diesmal ganz anders. Es geht nicht nur um den Text Lasker-Schülers, sondern es werden andere Texte miteingeflochten; zum Teil illustrierend, zum Teil als Zeitdokumente, die die jeweilige geschichtliche Situation wie im Brennglas fokussieren. Neben nüchternen Texten, etwa den Nürnberger Rassengesetzen, stehen als extremer Kontrast Liebesgedichte von Lasker-Schüler und Marina Zwetajewa. Diese lassen die Gegenwelt zu den Grausamkeitsexzessen der Ideologien schmerzhaft bewusst werden.
Letztlich lässt das Werk so die Gattungsgrenzen sowohl des Liederzyklus wie auch die der konventionellen Oper weit hinter sich. Es wird gewissermaßen zum Dokumentarhörspiel, welches ganz grundsätzlich auf die schrecklichen Irrwege der menschlichen Geschichte hinweist. Um diese Möglichkeit zu sehen und schlüssig umzusetzen bedarf es zuallererst eines kreativen Librettisten, wie es offenbar Matthias Theodor Vogt ist, dessen Textauswahl extrem durchdacht ist und damit durch vielerlei Bezüge und Deutungsebenen angereichert.
Diese hochgesteckten Deutungen müssen allerdings ihre Entsprechung finden in einer adäquaten musikalischen Substanz, ohne welche alles zwar eine gute Idee wäre, aber nichts weiter.
Kongenial gelöst hat diese Aufgabe die Albena Petrovic Vratchanska. Sie beherrscht, heutigentags ein schon eher seltener Fall, sowohl klassische Kompositionstechniken als auch diejenigen der Neuen Musik souverän. Neben Reihentechnik insbesondere den Bereich der Klangerweiterungen der traditionellen Instrumente. Diese hat sie überzeugend in der Textausdeutung eingesetzt, ob es nun um das Kratzgeräusch der Streicher, das Spiel auf den Saiten beim Klavier oder die Verwendung zusätzlicher Effektinstrumente geht. Diese sind von allen Mitgliedern des Ensembles (2 Sängerinnen, Streichquartett, Klavier, Schlagzeug) zusätzlich zu spielen.
Auf der traditionellen Seite wiederum bestechen die kunstvoll bewusste Stimmführung und eine gute Intuition für Melodie, Rhythmus, Harmonik, den zentralen Eigenschaften der Musik, wohlgemerkt genau jene, die von den Vertretern des Neuen Musik so gern neutralisiert werden, man könnte auch sagen: vernachlässigt werden.
Dabei schreckt Albena Petrovic auch nicht vor Methoden zurück, die im Rahmen der Textausdeutung oder als notwendiger musikalischer Kontrast eine Musik zeitloser Schönheit und Ausdruckskraft generieren. Sie kann ein Lacrima, ein Ave Maria überzeugend komponieren und riskiert dies auch. Im Kontext von Geräuschflächen und perkussiven Stellen, oft auch eingebunden in eine Klangflächenarchitektur, verleiht sie damit den alten Dreiklängen eine Ausdruckskraft, und darauf kommt es hier an, die sie im klassischen Kontext auf keinen Fall haben könnten. Eine Ausdruckskraft, die zeitgemäß im besten Sinn ist.
Formal ergibt sich, dem Libretto entsprechend, eine abwechslungsreiche Abfolge in sich geschlossener musikalischer Tableaus, von denen einige an dramaturgisch geeigneten Stellen auch wiederkehren.
Als letzte Instanz zur Verwirklichung dieses Radio-Oper-Konzepts fungieren natürlich die Interpreten; ohne sie bliebe alles Papier. Die beiden Sängerinnen Cynthia Knoch und Naama Liany haben dabei mit großem Einfühlungsvermögen und sehr engagiert ihre schönen und facettenreichen Stimmen geradezu mustergültig in den Dienst des Werks gestellt. Dasselbe kann man von den Musikern des Ensemble MYX‘D sagen, welches souverän nicht nur die schönen Töne, sondern vorbehaltslos auch die geforderte beträchtliche Klangeffektpalette meisterte. Matthias Theodor Vogt ließ es sich nicht nehmen, den Part der gesprochenen Texte, brillant vorgetragen, selbst zu übernehmen.
Insgesamt ist ‘Das Blaue Klavier’ ein sehr positives Konzerterlebnis, weil nicht nur die hässliche Fratze totalitärer Ideologien präsentiert und angeklagt wird, sondern auch die Gegenwelt echter Liebe und tiefer Menschlichkeit aufscheint, in der Musik fast noch deutlicher als in den Texten. Diese Gegenwelt ist aber nicht bloß schöner Schein, weil die Protagonisten (die beiden Pianistinnen) selbst sie unter widrigen Bedingungen erfahren haben, nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit der Musik.
Man würde sich wünschen, dass solche Werke auch einmal in Paris oder Berlin zu hören wären, jenen selbsternannten Metropolen Neuer und Aktueller Musik, die zuhauf wenig nachhaltige und letztlich epigonale Musikproduktion jeweils allerneuesten Datums vorführen. Warum konnten der Bulgarische Nationale Rundfunk und die 54. Sofioter Musikwochen dies leisten? Wer wird die szenische Uraufführung übernehmen?