Ein ungemein detailreiches Buch über Ludwig van Beethoven fiel mir vor kurzem in die Hände, geschrieben vom niederländischen Musikwissenschaftler Harke de Roos unter dem Titel « Der andere Beethoven – Das Rätselmetronom oder Die dunklen Tränen. » Ich las es mit umso mehr Interesse, als ich mir zuvor die Aufnahme der Zweiten Symphonie Ludwig van Beethovens mit den Wiener Symphonikern angehört und die CD von Gramola auch rezensiert hatte (Beethoven im Zeitlupentempo).
Vieles, was in anderen Biographien nicht steht, findet hier Erwähnung, aber die Voraussetzung, um diese komplementären Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, sie gegebenenfalls mit bestehenden Kenntnissen abzugleichen und diese sogar in der Folge zu revidieren, ist eine solide musikgeschichtliche Basis.
Ein Hauptthema des Buches sind die Metronomangaben, mitsamt den Beziehungen zwischen dem Komponisten und dem nicht so ganz klar als Erfinder des Metronoms zu identifizierenden Johann Nepomuk Mälzel. Deshalb heißt das Buch ja auch in einem der beiden Untertitel ‘Das Rätselmetronom’: « Sechs von sieben Metronomangaben Beethovens sind gespielte Irrtümer, » behauptet de Roos und sagt weiter: « Der Komponist spielt uns Irrtümer, so wie er uns ein Klavierstück spielt. Somit wird, als würde es sich um eine eigenständige Komposition handeln, ein kunstvolles Spiel der Irrtümer geschaffen ». Und er belegt das gewiss nicht nur mit Beethovens eigener Aussage: « Wir irren alle Samt. Nur jeder irret anders », sondern mit fundierten Überlegungen, die so manche Entwicklung in der Beethoven-Interpretation in ein völlig neues Licht stellen.
Wenn auch einige Passagen sehr theoretisch geraten sind und vor allem versierte Musikwissenschaftler vollauf informieren werden, so bleiben diese Passagen doch isoliert, und es wird auch für den ‘normalen’ Leser immer gleich wieder spannend.
De Roos’ Buch ist wie ein Stamm mit zahlreichen Ästen und noch viel mehr Verästelungen, an denen eine Unzahl Blätter hängen. De Roos hat gut und viel recherchiert, weil er gerne vollständig informiert. Kaum ein Name wird genannt, ohne, dass Bezüge und Hintergründe hergestellt werden. Dabei riskiert er manchmal, weit vom eigentlichen Thema abzukommen, aber letztlich doch mit dem Resultat, dass das ganze Umfeld so transparent wird wie selten zuvor.
De Roos bringt uns den Menschen Beethoven sehr nahe, und wir erkennen in diesem Menschen mehr als den wutanfälligen Beethoven, als der er oft dargestellt wird. Wichtige Informationen erhalten wir über Beethoven und seine Familie, über seine Mäzene, über politische Zusammenhänge und vieles andere mehr.
De Roos sucht ständig nach Relationen, zwischen der Taubheit und den Freundinnen, zwischen Jugend, Erziehung und Mozart, ja er geht sogar so weit, bei Beethoven Schuldgefühle aufzudecken, die dieser gehabt haben soll, weil er von der Gesellschaft, in der er sich entwickelte, an Mozarts Stelle gehievt wurde, Mozart, der de Roos zufolge längst nicht eines natürlichen Todes gestorben sein soll, sondern mit Beihilfe des Barons von Swieten von seinem Arzt quasi ermordet wurde: « Immer tiefer wurde ihm bewusst, dass ihm eine Komplizenschaft am Verbrechen gegen Mozart aufgedrängt wurde », schreibt de Roos. Wie sich das auf Beethovens Werk auswirkte, ob er in diesem Licht seinen Gehörverlust als Strafe oder gar als Ausweg ansah, all das beleuchtet Harke de Roos mit oft gewagten Schlussfolgerungen, die aber nie einfach nur aus der Luft gegriffen sind, sondern aus einem profunden Wissen abgeleitet werden.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Zweiten Symphonie und dem Steinernen Gast aus Mozarts ‘Don Giovanni’? Was hat es denn wirklich mit der ‘Eroica’ auf sich? War der ‘Neffe’ Karl tatsächlich der leibliche Sohn des Komponisten? … Brisante Fragen, brisante Antworten. Und das macht dieses Buch so interessant, das man jedem Musikfreund nur wärmstens empfehlen kann. Es ist ein Buch, das man beim ersten Lesen sicher nicht ganz erfassen wird, das man mehrmals lesen muss, um voll in die Gedankenwelt des Autors einzudringen. Für mich jedenfalls war es eines der spannendsten Musikbücher, die ich seit langem gelesen habe. Und ich fühle, dass ich es mir bald erneut vornehmen werde.
Das Buch: Harke de Roos, Der andere Beethoven: Katharos Verlag; ISBN 10: 3000357416 / ISBN 13: 9783000357411
Der Autor: Harke de Roos:Geboren 1942 als Pfarrersohn in Hellevoetsluis. Aufgewachsen in der Inselprovinz Zeeland südlich von Rotterdam. Studierte an der Musikhochschule in Amsterdam Soloklavier und Konzertdirigieren. Weiterbildung als Dirigent bei Franco Ferrara in Hilversum, Herbert von Karajan in Salzburg und Hans Swarowsky in Ossiach. Langjähriger Solorepetitor an den Opernhäusern in Amsterdam, Köln und West-Berlin (Deutsche Oper Berlin). In den 1990er Jahren Generalmusikdirektor in Eisenach. Intensive Forschung nach den historischen Temporelationen mit Rundfunksendungen und Veröffentlichungen zum Thema ( u.a. RIAS-Berlin 1988, Almanach der Beethovenfeste 2000, SWR 2012, NDR und Oesterreich-1 2013). 2010 erste Aufnahme einer Beethovensymphonie mit wiederhergestellten Temporelationen mit den Wiener Symphonikern, veröffentlicht bei Gramola/Vienna. Bücher: « Beetgenomen door Beethoven » (1991), (Mozart und seine Kaiser » (2006) und « Das Wunder Mozart in der Aufklärung » (2011, Katharos Verlag).