Wir leben in beunruhigenden Zeiten. Während unser Alltag, zumindest oberflächlich, ‘so wie immer’ weiterzulaufen scheint, lauern hinter dem geographischen Horizont und am Rande des Bewusstseins tausend Bedrohungen, die wir zunehmend spüren, nicht immer genau benennen können und vielleicht ungern wahrhaben wollen. Kein Wunder, dass überall auf den Wahlplakaten dieses Jahres „Sicherheit“ versprochen wird.
In der Tat: Was man in diesen Tagen gut brauchen kann, ist ein Anker zum Festhalten, eine Quelle der Zuversicht, ein Ort, an dem man ausruhen und Mut fassen kann. Im Laufe meines eigenen Lebens habe ich einen solchen Anker entdeckt: In schwierigen Zeiten kam ich immer wieder auf die Musik Johann Sebastian Bachs zurück, wo ich sicher sein konnte, Trost und Ermutigung zu finden. Das geschah seltener beim Hören der grandiosen Vokalwerke, so herrlich sie auch sind, sondern eher bei kürzeren Instrumentalstücken, die ich leichter „mitnehmen“ und wiederholen konnte. Am allerliebsten kehrte ich immer wieder zu meinen unermüdlichen Freunden, den 96 Präludien und Fugen aus beiden Büchern des Wohltemperierten Claviers zurück. Schon als junger Klavierschüler hatte ich sie geliebt (lange bevor ich wusste, dass sie das „Alte Testament des Klavierspielers“ waren), und als ich älter wurde, nahm ich sie, so gut ich konnte, immer wieder selbst unter die Finger. Neben den gedruckten Noten wuchs dann eine Platten- (später CD-) Sammlung (Galling, gefolgt von Gould ad infinitum) sowie eine Neigung zur Barockmusik, die mich schließlich zum Eigenbau eines Cembalos führte.
Das ehrwürdige Clavizimbel liebe ich zwar nach wie vor, aber die größere Hälfte meiner Sammlung (inzwischen weit über 100 Einspielungen des WTC-1 und fast so viele des WTC-2) besteht aus Klavieraufnahmen – und das nicht nur, weil sie zahlreicher auf dem Markt sind. Ich muss offen gestehen, dass mir Bach auf dem modernen Flügel vielfältiger, aufregender und interessanter erscheint. „Historische Authentizität“ in allen Ehren, aber die Behauptung ihrer Überlegenheit scheint mir mehr auf „Ideen“ zu beruhen als auf wirklichen Hör-Erlebnissen. (Das gesagt, gönne ich gern jedem das Seine.) Auf jeden Fall wird mir niemand meine Überzeugung ausreden, dass Johann Sebastian Bach – wenn er wieder unter uns weilen könnte – von einem modernen Steinway oder Fazioli begeistert gewesen wäre.
Das Interesse des eben vorgestellten WTC-Sammlers war natürlich groß, als er von einer brandneuen Gesamtaufnahme vom ersten Buch des Wohltemperierten Claviers erfuhr:
Und nach dem Anhören, wie groß war seine Zufriedenheit! Der Name Alexandra Sostmann war mir zwar nicht unbekannt (ihre mutige, schön gespielte Kombination ‘Bach, Byrd, Gibbons + Contemporary Music’ hatte mir schon gefallen), aber diese neue Aufnahme (anscheinend die erste ausschließlich Bach gewidmete) übertraf alle Erwartungen.
Meine erste Reaktion: jetzt ist es da. Nicht nur ein superb gespieltes WTC, sondern eins mit einer Botschaft, die uns helfen kann, unsere seltsam fordernde Gegenwart durchzustehen. Dass Bachs 96 Präludien und Fugen zum Mutmachen und Trösten hervorragend geeignet sind, wissen schon alle, die das ‘Werk aller Werke’ (Schumann) näher kennen. Die Wirkung offenbart sich gleich beim ersten Stück in C-Dur. Wenige Stücke klassischer Musik wirken besänftigender auf die Nerven als die fließenden Akkordfolgen dieses Präludiums. Danach erhebt sich die wachsende Verheißung des ersten Fugenthemas, das wie eine Morgensonne in die Höhe steigt, um das Wunderbare anzukündigen, wie wir an Bachs sicherer Hand durch alle Höhen und Tiefen des Menschenlebens geführt werden. Das erwarten wir vom WTC, aber warum benötigen wir nun eine zusätzliche Aussage der Bachschen Wahrheiten von Alexandra Sostmann, nachdem bereits so viele ihr vorangegangen sind? Hat sie uns wirklich etwas Neues zu sagen – und wenn ja, warum ist es unserer Gegenwart besonders angemessen?
Am liebsten würde ich jetzt achtundvierzigmal im Detail erklären, wie Frau Sostmann jedem Einzelstück ihren unverwechselbaren Stempel aufdrückt und welche Wirkung sie dadurch erzielt. Doch weil jede Besprechung gewisse Grenzen einhalten muß, werde ich mich auf eine kleine Auswahl bemerkenswerter Präludien und Fugen beschränken. Um die besondere Stellung der Pianistin in der Interpretenlandschaft zu verdeutlichen, füge ich auch einige Bemerkungen über die Konkurrenz hinzu.
Zuerst zum Allgemeinen, dann zum Spezifischen. In ihrem sehr lesenswerten Booklet zum Doppel-CD erzählt Alexandra Sostmann in einem Interview mit Robert Nemeczek von ihren intensiven Vorbereitungen auf die Einspielung und über ihre Hauptziele als Interpretin. Hierin spielt das Wort Artikulation eine besonders wichtige Rolle (d.h. die Art, wie einzelne Töne erzeugt und miteinander verbunden werden), und hier trifft sie genau auf den entscheidenden Punkt, der ihre ’48’ von anderen unterscheidet. Liebhaber des fließenden Legatospiels werden vielleicht enttäuscht sein, aber in ihrer Einspielung präsentiert uns Sostmann ein Wohltemperiertes Clavier mit einem ganz anderen Gesicht. Selten haben wir das Werk in einer Gestalt wie dieser erlebt, wo jede Einzelnote so klar hervortritt. Damit ist keineswegs gesagt, dass Alexandra Sostmann überall staccato spielt! Dies haben andere Interpreten bereits probiert und mit dünn-trockenem Klavier ein Klangbild aus Staccatofolgen zusammengestickt, das möglichst cembalomäßig wirken soll. Friedrich Gulda hat davon bemerkenswerte Beispiele geliefert (vgl. etwa seine c-Moll-Fuge oder das Paar in A-dur). Experimente dieser Art haben bestimmt ihren Wert, auch wenn sie das Herz oft weniger befriedigen. Alexandra Sostmann hält sich dagegen an der Grenze zwischen Staccato und Legato bei einer sehr subtilen Art von Portato, das jede Einzelnote deutlich sprechen lässt. (Das Wort ‘deutlich’ ist für Sostmanns Arbeit geradezu programmatisch.) Begleitet wird dies von einer überwiegend kraftvollen Dynamik, die alle kontrastierenden Piano-Stellen besonders schön zur Geltung kommen lässt.
Als zweiter Hauptpunkt und weitere Annäherung an die barocke Musikkultur kommt der auffällige Einsatz von Basstönen. Zu Bachs Zeiten war die Basslinie die Grundlage jeder musikalischen Komposition, und bei Alexandra Sostmanns Interpretationen spürt man überall eine starke Bass-Grundierung – manchmal so sehr, dass man regelrecht verblüfft wird. (Am Anfang der allbekannten c-Moll-Fuge fragt man sich: „Was war das denn!?“ – bevor man die Ursache des Staunens entdeckt.) Orgelpunkte sind auch ein wichtiger Aspekt von Sostmanns Bass-Pflege.
Der dritte und vielleicht zentrale Punkt ist aber am schwersten zu definieren. Hier geht es um die Bewahrung der Würde, die Bachs Musik immer ausstrahlt – die edle Erhabenheit, die deren unerschütterliche Dauerhaftigkeit begründet. Warum genügen Bachs Werke immer den höchsten Qualitätsansprüchen? Weil er seine Maßstäbe als Teil einer göttlichen Ordnung begriff, die nicht durch beliebige Menschen-Launen außer Kraft zu setzen sind. Und gerade in diesem Punkt erleben wir die peinlichsten Konflikte zwischen Interpretenehrgeiz und der innewohnenden Würde Bachscher Werke. Interpreten möchten sich natürlich vor anderen auszeichnen, wollen beeindrucken und mit dem Glanz ihrer Virtuosität blenden – was oft zu einer – wohl unbeabsichtigten – Respektlosigkeit gegenüber den Werken führt. Auch die einfachsten Werkchen Bachs besitzen eine gewisse Vornehmheit, die es zu bewahren gilt.
In diesem Zusammenhang ist das Schnellspielen wohl die Hauptsünde: ein so einfaches Mittel, die eigene Virtuosität und „Anderssein“ zu beweisen – und für mich die Hauptquelle meiner Unzufriedenheit mit sehr vielen Vorträgen Bachscher Klavierwerke. Virtuosität offenbart Alexandra Sostmann offenbar mühelos an vielen Stellen, aber sie lässt sich nie dazu hinreißen, ein Tempo unnötig zu überhöhen. Alles bleibt beherrscht. Man vergleiche aber die Art und Weise, wie andere (auf Kosten Bachs) sich „gehen lassen“. Aus der Spannung des e-moll-Präludiums muss man sich in die aufregende Fuge geradezu stürzen. Alexandra Sostmann hält die Spannung aufrecht, aber die Zügel des Tempos bleiben ihr stets fest in den Händen (Metronom 92). Glenn Gould beliebt dagegen, mit Tempo 132 loszurasen – und erzeugt dabei das edle Bild eines … Mäuserennens.
Die beherrschten Tempi von Alexandra Sostmann tragen nicht nur dazu bei, Bachs Kraft und Würde (und die Identität seiner Einzelnoten!) zu bewahren, sondern auch ihr Verzicht auf alle anderen Manierismen. So müssen wir bei ihr keine überraschenden Staccati fortissimi, keine romantischen, fortgangstörenden Rubati und keinen Dauergebrauch des „tonverschwimmenden“ rechten Pedals befürchten. Allein das Tonhaltepedal setzt sie besonders gern ein, um z. B. lange Orgelpunkte schön durchklingen zu lassen, und zwar in einem Ausmaß (und dank der Hilfe kluger Klaviertechniker), das mir neu und einmalig erscheint.
1. Präludium C-Dur: Am Schluss die Bassnote kräftig verdoppelt – sogar mit einem Sechzehntel-Vorhalt am Anfang der Takte 25-31. Von großer Wirkung!
Fuge C-Dur: Starker Orgelpunkt auf C im Bass – nur vergleichbar mit Aufnahmen einiger Organisten (vgl. Daniele Boccaccio 2015).
2. Präludium c-Moll: Die ersten sechs Takte mit 12-mal verdoppeltem Bass-C. Überraschend und eindrucksvoll! Die abgesetzten Noten kraftvoll in mäßigem Tempo (84). Keine Gefahr, daß das Präludium wie eine Fingerübung (oder gar eine Nähmaschine!) klingt – wie bei anderen, die mit Tempi bis 152 hindurchrasen.
5. Präludium D-dur: Großartiger Orgelpunkt ab Takt 27 (nur vergleichbar mit Versionen von Organisten wie Boccaccio oder John Wells). Prächtig-virtuose Arpeggiatura am Schluss!
Fuge D-Dur: Schöne Lösung des problematischen Fugen-Anfangs; die erste Note wird länger gehalten und die weiteren sieben als schnelle Verzierung behandelt. So bisher nur einmal gehört. Rest des Themas doppelt punktiert.
7. Präludium Es-Moll: Angemessen würdig, aber nicht träge schreitend (38). Thema doppelt punktiert (was selten vorkommt, vgl. aber Eriksen 2007).
Fuge dis-Moll: Schönes, langsames Tempo (58, andere gehen bis 112!), Kontrapunkt außerordentlich gut verdeutlicht, grandiose Schlusssteigerung ab T. 77. Wer hat’s besser gemacht?
10. Präludium und Fuge e-Moll: Erste Hälfte: schön langsam (58), leicht gebrochener Terzakkord (Tenor-Alt) als Begleitung der Hauptsopranstimme um etwa ein
16.tel nach jedem Taktanfang verzögert (einmalig!) und zaubert eine Art leiser Gitarrenbegleitung. – Zweite Hälfte – accelerando und crescendo. Ab T. 23: Aus der Traum. Nun stürzt man sich in die aufregende Fuge! Die aber ein kraftvoll-beherrschtes Tempo einhält (92).
12. Präludium f-Moll: Schönes, ruhiges Tempo (38); Bassverdoppelung – um eine Oktave tiefer – in Takten 17-21. Einmalig!
14. Präludium fis-Moll: Mit erbarmungsloser Deutlichkeit vorwärts! (80), entspricht Feltsmans Empfehlung ‘bold, energetic’. Die Konkurrenz entweder zu träge oder zu ‘tänzerisch-leicht’ (bis 126).
Fuge fis-Moll: Langsam, meditativ, bewegend (63). (Sostmanns Lehrer Koroliov sowie Svjatoslav Richter bremsen zu stark auf 52, andere steigern bis 112!) Ich kenne kein besseres Paar in dieser Tonart.
18. Präludium Gis-Moll: Glockenklar, expressiv ohne das oft gepflegte Rubato, Tempo 110 (Spanne der „Ernstzunehmenden“ zwischen 88 und 144).
Fuge Gis-Moll: Schönes, langsames Tempo (48), aber kraftvoll vorwärtsdrängend. Zwischen fragwürdigen Extremen bei Gulda (39) und Gould (92). Passt perfekt zu meinem imaginierten Lied: « Was haben die Götter mit uns vor? Die Antwort kommt gewiss.“
20. Präludium a-Moll: Tiefer Orgelpunkt am Schluss wirkt sogar besser als in Orgelaufnahmen (Boccaccio et al.).
Fuge a-Moll: Lebendig (72), aber keine schnelle Karikatur (Gould 104!). Diese ‘langweiligste Fuge’ ein Genuss. Triller exzellent – wie überall. Orgelpunkt am Schluss hält vier Takte lang nach einem Anschlag (Biran und Feltsman, sonst exzellent, müssen mehrfach wiederholen.)
24. Präludium h-Moll: Anfangs klar abgesetzte Andante-Schritte (60) ohne die üblichen Tempo-Vergehen (48-92). Wiederholungen mit verschiedener Dynamik und Artikulation.
Fuge h-Moll: Mich kann kaum eine Interpretation dieser ‘musikalischen Kreuztragung’, dieser ‘Dornenkrone’ (Spitta) auf dem Haupt des Wohltemperierten Klaviers zufriedenstellen. Diese Schlussfuge des Werkes ist eine der ergreifendsten Kompositionen der Musikgeschichte, und als solche kann sie meines Erachtens fast gar nicht langsam genug gespielt werden. So finden nur die extrem ausgedehnten Versionen von Avaliani, Martins, Landowska, Aldwell, Koroliov und Luisi (Metronom 24-31) meine volle Zustimmung.
Ich habe bei Gelegenheit Pianisten gefragt, wie schnell die Fuge gespielt werden soll, und alle haben mir ein schnelleres Tempo angegeben. Wie soll ich dann Alexandra Sostmann dafür kritisieren, dass sie hier (mit Tempo 42) meinem persönlichen Ideal nicht ganz entsprochen hat? Bachs Ernst und Würde bleibt bei ihr auf jeden Fall gewahrt: Die Fuge wirkt durchaus majestätisch, die Seufzer Christi sind klar ausgedrückt, aber es fehlt mir letztendlich – wie soll ich es sagen? – die Rührung, die mich bei den genannten ‘Meistern der Langsamkeit’ überfällt. Nun, diese Schlussfuge ist ohnehin eine musikalische Ausnahmeerscheinung (sogar, wie Philipp Spitta meinte, einem Publikum kaum zumutbar) und wird von mir in keine kritische Waagschale gelegt.
Wie sie in ihrem Booklet erzählt, hat Alexandra Sostmann sehr viel Arbeit in die Vorbereitung dieser neuen Einspielung des Wohltemperierten Claviers investiert, und angesichts der vorliegenden Ergebnisse müssen wir ihr dafür herzlich danken. Diese Aufnahme bleibt für mich, der so viele verschiedene gesammelt hat, eindeutig die interessanteste, eigenständigste und, ja, stärkste unter den WTC-Neuerscheinungen der letzten Jahre und wird nach meiner Empfindung als Fels in der Brandung unserer turbulent-flatterhaften Zeit noch lange bestehen können. Ich empfehle deshalb alle Musikliebhaber, die heutzutage einen festen Erholungsort suchen, an diesem Felsen vor Anker zu gehen, um dort immer wieder Kraft und Zuversicht zu gewinnen.