Das Hagen Quartett, verstärkt durch Christian Poltéra, spielte gestern Shostakovich und Schubert beim Musikfestival Schwäbischer Frühling im Bibliothekssaal des Klosters Ochsenhausen. Remy Franck konnte dabei feststellen, dass Shostakovichs letztes Quartett auf tragische Weise aktualisiert werden kann.
Dmitri Shostakovich erkundet in seinem letzten Streichquartett musikalische Grenzlandschaften. Es ist Musik von beängstigender Illusionslosigkeit, Musik, aus der Öde und Kälte sprechen, die der Komponisten in eine fragile Klangwelt einbrachte, die das Hagen Quartett in diesem Konzert in einer packenden und ergreifenden Interpretation wiedergab. Für mich trugen zwei Farben dazu bei, aus dieser Musik ein ganz neues Erlebnis zu machen.
Drei Reihen vor mir saß eine Dame mit einem gelben Jackett, neben ihr ein Mann mit blauem Sakko. Und als die ersten kargen, nackten Klänge ertönten, stellte sich die Aufführung für mich unter den Gedanken an die toten Ukrainer, und ich bin mir sicher, Shostakovich hätte dem nicht widersprochen. Der erste Satz des Quartetts wirkte wie eine Filmmusik zu einer Dokumentation über diesen brutalen Krieg, mit einem langen Kameraschwenk über Leichen und rauchgeschwärzte Ruinen. Und so wie der dritte Satz der 10. Symphonie als Porträt Stalins bezeichnet wird, könnte man die Serenade aus dem 15. Quartett mit ihrem Grimm, ihrem Fäusteballlen und ihrer genüsslichen Schadenfreude als antizipiertes Porträt Putins ansehen. Und im weiteren Verlauf der Musik zur Dokumentation des Krieges mischten sich Angst und Trauer, Hoffnungslosigkeit, Gebet und innere Revolte, herzzerreißendes Entsetzen und Flucht.
Diese Interpretation ging nicht spurlos an einem vorbei. Es ist unmöglich, sie zu vergessen, so wie es unmöglich war, ihr zu entrinnen. Das Quartett erlangte eine neue Dimension und brannte sich so im Geiste fest.
Nach der Pause erklang Franz Schuberts Streichquintett D. 956. Es ist ein großartiges Meisterwerk, das im Hagen Quartett und in Christian Poltéra als 2. Cellisten exzellente Interpreten gefunden hatte. Ihre Darbietung baute auf Kontraste auf zwischen tragischen Gesten, forschem Musizieren, Wehmut und Melodienseligkeit. Diese Differenzierung und die klangliche Fülle waren die Hauptcharakteristik. Hinzu kam, dass das Spiel der Instrumentalisten von einer solchen Intensität und Ausdruckskraft war, dass man sich einem einfachen Zuhören der Klanglinien von sublimer Schönheit nicht hingeben konnte, denn immer wieder überraschten die Interpreten mit starken, oft herben Akzenten, die Teil eines großartig durchdachtes Gesamtkonzepts waren. So wirkten denn auch die zutiefst emotionalen Momente, vor allem im unbeschreiblich intensiven ‘Adagio’ nie larmoyant, sondern voll innerer Beteiligung, auch gerade da, wo die Klänge fahl und leer, sozusagen verkörperte Halluzination und Melancholie sind. Auflehnung gegen das Schicksal und Verzweiflung wirkten daher umso stärker.
So entstand eine packende Deutung des Streichquintetts, zu der die Akustik im Bibliothekssaal des Klosters Ochsenhausen ihren Teil beitrug. Diese Akustik liefert dem Zuhörer ein sehr natürliches, transparentes und völlig unverfälschtes Bild dessen, was auf dem Podium passiert. Und daher kann man sagen: der historische Bibliothekssaal, der 1783 von Abt Romuald Weltin in Auftrag gegeben wurde, erheischt Musik und es war wirklich unabdingbar, ihn zu bespielen. Intendant Linus Roth, der diesen Saal für seinen bevorzugten Kammermusiksaal hält, hätte keinen besseren Veranstaltungsort finden können.