Mit dieser SACD wird der großartige Tchaikovsky-Zyklus mit Dmitrij Kitajenko und dem Gürzenich-Orchester Köln abgeschlossen. Echte Raritäten sind hier zu hören, die rekonstruierte Siebte Symphonie in Es-Dur und das aus dem ersten Satz dieser Symphonie entstandene Dritte Klavierkonzert.
Die so genannte ‘Siebte’ hat Leo Ginzburg 1958 zum ersten Mal mit dem Moskauer Radioorchester aufgenommen, Eugene Ormandy machte 1962 in Philadelphia eine Aufnahme davon, und 1993 veröffentlichte Chandos eine Einspielung mit dem London Philharmonic unter Neeme Järvi. Es gab auch eine Aufnahme von Kyung-Soo Won (1991, Hallmark), und eine weitere, zeitlich nicht näher zu bestimmende Einspielung von Melodiya unter Sergueï Skripka. Es zirkuliert im Internet auch eine etwas verworrene Geschichte über eine computergenerierte Siebte Symphonie Tchaikovskys, die das Philadelphia Orchester unter einer nicht existierenden Dirigentin Henrietta Quelles gespielt haben soll, aber das ist musikalische ‘Science fiction’.
An der Symphonie Es-Dur mit dem programmatischen Titel ‘Leben’ arbeitete der Komponist zwischen der Schicksalssymphonie, der Fünften und der Abschiedssymphonie, der ‘Pathétique’. Er komponierte sie parallel zum ‘Nussknacker’, also in den Jahren 1891 und 1892. Im November 1892 war das komplette Werk skizziert und der 1. Satz weitgehend orchestriert. Doch die Komposition gefiel ihm nicht, er brach die Arbeit daran ab und nahm die ‘Pathétique’ in Angriff.
Seinem Neffen Wladimir Dawidow teilte er mit, das Material der unvollendeten Symphonie in Es-Dur vernichtet zu haben. Das stimmte allerdings nicht: Er bearbeitete die Sätze 1, 2 und 4 und schuf daraus sein 3. Klavierkonzert in einem Satz, das Andante und Finale op. 79 sowie, im Rahmen der Klavierstücke op. 72, eine ‘Scherzo-Fantasie’ op. 72/10.
Der russische Komponist Semyon Bogatyryov rekonstruierte die Symphonie in den Fünfzigerjahren nach den Skizzen und dem Klavierkonzert, bzw. dem Andante und Finale und dem Scherzo op. 72 Nr. 10. Diese Fassung wurde am 7. Februar 1957 in Moskau uraufgeführt.
Dimitrij Kitajenko lässt sowohl in seiner Interpretation als auch in dem, was er über das Werk sagt, keinen Zweifel daran, dass dies « sehr gute Musik » ist: « Tchaikovskys Herz liegt in dieser Musik! Sie hat Recht, auf die Bühne gebracht zu werden. »
Diese Musik ist tatsächlich genuiner Tchaikovsky, gehaltvoll und ungemein reich an kompositorischen Einfällen.
Ein Allegro brillante leitet die Symphonie ein. Ein aufstrebendes Motiv bestimmt von vorneherein den Charakter des Satzes: das ist eindeutig positive und brillante Musik, mit packender Rhythmik und so prägend wie ein Stempel auf einem Dokument. Nachhaltigkeit würde man sagen, wenn das Wort von den Politikern nicht so sinnentleert worden wäre. Doch neben straffer Rhythmik und verspielten Klängen gibt es auch viel lyrischen Schmelz: die Gürzenich-Geiger spielen hingebungsvoll unter Kitajenkos inspirierender Leitung. Und selbst da, wo die Musik vom Höhepunkt abwärts fließt, vergräbt sie sich nicht in Desolation und Depression, sondern blüht sofort wieder auf. Und Kitajenko heizt dabei auch kräftig ein! Reminiszenzen an die großen Tchaikovsky-Ballette werden wach.
Das Andante, der zweite Satz, hat nichts Trauriges, keine Melancholie, eher würde ich die sanfte Melodik als ‘erfüllte Ruhe’ bezeichnen, ein tiefes Durchatmen in Zufriedenheit. Kitajenko dirigiert mit schwelgerischem Lyrismus, schützt die Musik aber vor Süße und Karies.
Den dritten Satz hat Bogatyryov in Ermangelung anderen Materials von der erwähnten Miniatur aus dem Klavierzyklus op. 72 ausgehend orchestriert. Es gelang ihm ein ungewöhnlich leichtfüßiges und flatterhaftes ‘Scherzo fantastique’ von bestechender Wirkung. Ein wirklich völlig neuer Aspekt bei Tchaikovsky!
Das Finale ist mit ‘Allegro maestoso’ überschrieben und doch kein Kind der Traurigkeit. Er hat unter Kitajenkos zupackender Leitung viel federnden Schwung und ein erstaunliches Farbpotenzial. Ein Beckenschlag, gefolgt von einem Paukenwirbel und einer dramatischen Blechfanfare fördert ein lautes, schmerzliches und fatalistisches Seufzen zutage. Wie ein Fremdkörper wirkt der knapp 45 Sekunden dauernde Passus in dieser Umgebung. Und doch: Kündigt sich hier nicht die ‘Pathétique’ an? Ist das nicht ein Vorbote des tragischen Endes? Die Musik rafft sich jedoch gleich wieder zu größter Brillanz auf, und so geht die Symphonie auch zu Ende. Ein Exot, der nichts gemein hat mit den Symphonien 4 bis 6.
Und vielleicht hat Tchaikovsky gerade darum diese Symphonie verworfen, weil sie so anders ist als die Vierte, die Fünfte und die Sechste, weil sie ‘leichter’ daher kommt, weil sie nicht die Tiefe erreicht, die er in einer Symphonie anstrebte. Vielleicht auch, weil er sie zwischen 5 und 6 für unpassend hielt, weil sie in dieser Leichtigkeit, in dieser Unbeschwertheit nicht dem entsprach, was tief in ihm vorging?
Brillant musiziert und voller Energie folgt dann das einsätzige 3. Klavierkonzert, in dem ich mir vom Toningenieur das Klavier etwas präziser und präsenter gewünscht hätte. Lilya Zilberstein spielt kraftvoll und flüssig, Kitajenko lässt das Gürzenich-Orchester opulent aufspielen.
Die SACD erlangt aber vor allem eine überragende Bedeutung durch die Aufnahme der wundervollen 7. Symphonie, die sich für ihr weiteres Leben keinen besseren Anwalt als Kitajenko hätte wünschen können.
Tchaikovsky’s unfinished 7th Symphony, reconstructed by Semyon Bogatyryov, is a beautiful piece of music, full of flourishing melodies and, so, quite different from the sister symphonies Nos. 4 to 6. Dimitrij Kitajenko conducts a full-blooded, brilliantly shaped version with the Gürzenich Orchestra which is once more the perfect instrument for his vision of sound and feeling.