So wie in Leoncavallos Pagliacci die Grenzen zwischen Theater und Realität verschwinden, so verschwinden in dieser Produktion auch die Grenzen zwischen dem Publikum der Oper und der Schauspieltruppe auf der Bühne. Robert Carsen hat den Chor in die ersten Reihen des Saales gesetzt – ein teurer Spaß, denn die besten Plätze konnten damit nicht verkauft werden.
Ein wichtiges Merkmal der Carsen-Inszenierung ist auch der Umstand, dass alles Südländische von der Bühne verbannt ist. Eine geographische Ortung der Musik ist mit den spärlichen Requisiten nicht möglich. Die Hauptrollen sind mit dem amerikanischen Tenor Brandon Jovanovic als Canio, dem russischen Bariton Roman Burdenko als Tonio und der amerikanisch-mexikanischen Sopranisten Ailyn Perez als Nedda sehr international, aber auch unterschiedlich gut besetzt.
Brandon Jovanovichs Canio lebt von einer intensiven Darstellung, und am Anfang beeindruckt er mit einer guten stimmlichen Leistung. Die baritonal gefärbte Tenorstimme ist kraftvoll und passt zu der dramatischen Inszenierung von Carsen, die Canios Eifersucht maximal schürt. Die Mischung aus Verzweiflung und ungezügelter Wut gelingt dem Amerikaner besonders gut. Entsprechend ausdrucksvoll ist seine große Arie Vesti la giubba, auch wenn die Stimme zu dem Zeitpunkt wegen vorheriger Verausgabung schon etwas mitgenommen klingt, was aber, wenn man es mal positiv formulieren will, zum Zustand der Figur passt. Dennoch: die Stimme verschlechtert sich im Laufe des Abends und klingt allzu oft approximativ und allzu rau.
Auch vom stimmgewaltigen Tonio von Roman Burdenko fordert Carsen maximalen Einsatz, zumal beim drastisch dargestellten Versuch der Vergewaltigung von Nedda.
Mattia Olivieri singt deren Liebhaber Silvio mit einer schlanken, eleganten und einfühlsamen Baritonstimme. Die Sopranistin Ailyn Perez ist eine großartige Nedda mit silbriger Stimme, die zart wie auch dramatisch klingen kann.
Lorenzo Viotti rahmt diesen immer starken und ausdrucksgewaltigen Gesang mit einem dramatisch glühenden Orchesterklang.
Carsens Idee, zu Turridus offstage gesungener Arie am Anfang der Cavalleria Rusticana den Mörder Canio und die Leichname von Nedda und Silvio aus I Pagliacci auf die Bühne zu bringen, ist vielleicht originell, trägt aber vom Szenischen her ebenso wenig zur Mascagni-Oper bei wie die aus Pagliacci mitgebrachten, jetzt multiplizierten Schminktische, für jedes Chormitglied einen. Sowas nenne ich inszenatorischen Quatsch, auch wenn sich das Chor-Publikum aus Pagliacci in dieser bühnenweiten ‘Garderobe’ in den Chor der Cavalleria verwandelt und Carsen damit auf die Beziehung zwischen Leben und Kunst, Schauspieler und Zuschauer hinweisen will. Wieso Santuzza eine aus dem Chor ausgestoßene Sängerin sein soll, will mir ebenso wenig einleuchten wie, dass die Chor-Inspizientin niemand anders ist als Turridus Mutter Lucia.
Aus der Besetzung der Leoncavallo-Oper wurde nur Roman Burdenko bei Mascagni recycelt, wo er einen ganz guten Alfio singt. Dessen Lola wird von der kanadisch-tunesischen Sopranistin Rihab Chaieb gesungen, die darstellerisch und vokal glänzt.
Die georgische Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili ist eine nicht weniger gute Santuzza. Ihre große, gut geführte und ausdruckskräftige Stimme eignet sich perfekt für die Rolle, wenn man nicht auf hundertprozentiger Italianità besteht.
Der amerikanische Tenor Brian Jagde hat auch keine typisch italienische Stimme und es fehlt ihm der tenorale Glanz. Aber sein Gesang ist kräftig, wenn auch nicht ganz frei von Problemen in der Höhe.
Auch in der Mascagni-Oper hält Viotti die Fäden gut zusammen und besorgt mit dem Netherlands Philharmonic eine starke orchestrale Umrahmung.
Und so gibt es in dieser entitalienisierten Produktion Höhen und Tiefen, und Opernfreunde werden, wenn sie die Oper gut kennen, Referenzen im Kopf haben und vergleichen können, mit Interesse zuschauen und zuhören.