1878 weilte Tchaikovsky in Clarens am Genfer See, um sich von seiner gescheiterten Ehe zu erholen. In diese Zeit fällt ein Besuch des russischen Geigers Josef Kotek. Sie spielten viel Kammermusik, unter anderem die Symphonie Espagnole von Eduard Lalo. Dieses Werk und wohl auch der Besuch von Kotek bewirkten, dass sich Tchaikovskys Stimmung wieder besserte und ihn aus der Schaffenskrise führte, so dass er anschließend innerhalb kürzester Zeit sein Violinkonzert schreiben konnte.
Gemeinsam ist den Werken, dass sie neben virtuoser Behandlung des Soloinstruments das Lokalkolorit der Herkunftsländer ihrer Erschaffer erklingen lassen. Bei Tchaikovsky ist es der slawische Einfluss, der im langsamen Satz unüberhörbar ist. Bei Lalo trägt schon der Titel seiner iberischen Abstammung Rechnung, aber auch im Werk sind Seguidilla, Habanera und Fiestaanklänge zu erkennen. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Während das russische Werk im üblichen Format mit drei Sätzen komponiert ist, hat die Komposition von Lalo fünf miteinander verbundene Teile.
Der vorliegende Livemitschnitt des Philharmonischen Orchesters aus London bringt die beiden Stücke mit dem noch jungen Solisten Augustin Hadelich, einem in Italien geborenen deutschen Geiger, der inzwischen Staatsbürger der USA ist, zu Gehör. Sein Spiel ist technisch exquisit. Seine Wiedergabe der Werke ist musikalisch eher einem schnörkellosen schlackenbefreiten Stil zuzuordnen. Tchaikovsky wird intensiv dargeboten, ohne einer früher vielfach zu beobachtenden Überfrachtung ausgesetzt zu sein. Bei Lalo wirkt der distanzierte Ansatz ein wenig unterkühlt, obwohl es sich auch hierbei um eine makellose Darbietung handelt.
Die beiden Werke werden von zwei Dirigenten geleitet, die noch der jungen Garde zuzurechnen sind. Sowohl Vasily Petrenko für den russischen Part als auch Omer Meir Wellber (bei seinem Erstdirigat mit dem London Philharmonic) für den spanischen, führen Solist und Orchester ausgezeichnet zusammen und entlocken dem ohnehin hervorragenden Klangkörper die Kräfte und Nuancen, die erforderlich sind, um dem Orchesterpart das nötige Gewicht und die Würze einerseits, andererseits auch die erforderliche Zurückhaltung zu gegenwärtigen, die im Zusammenspiel mit Solisten erforderlich ist.