Anlässlich der Verleihung des ‘Lifetime Achievement Award’ der ‘International Classical Music Awards’ (ICMA) und des im August anstehenden 75. Geburtstags von Dmitrij Kitajenko veröffentlicht Melodiya eine Box von 6 CDs mit historischen Aufnahmen aus Moskau, entstanden zwischen 1973 und 1984. In den meisten Einspielungen dirigiert Kitajenko die Moskauer Philharmoniker, deren Chefdirigent er von 1976 bis 1990 war. Die Box enthält neben symphonischer Musik einige Chorwerke, darunter die Messe von Puccini, das Requiem von Johannes Brahms und Rachmaninovs ‘Die Glocken’. Die Box will Kitajenko in erster Linie als Dirigent nicht-russischer Musik zeigen, die gängig auf seinen Konzertprogrammen in Moskau stand.
Diese Aufnahmen zeigen Kitajenko als Meister der Klangformung, eine Fähigkeit, die sein Dirigieren damals wie heute so singulär macht; er ist natürlich jünger und manchmal etwas zügiger im Tempo als heute, aber er zeigt, dass Herbert von Karajan unbedingt richtig lag, als er ihn als ‘kolossales Talent’ bezeichnete. Karajan verriet seinem Biographen Ernst Haeussermann, dass er bei Kulturministerin Furzewa interveniert war, um sie auf die ausserordentlichen Qualitäten des jungen Dirigenten hinzuweisen: « Unmittelbar darauf wurde er zum Leiter des Stanislawski-Opernhauses ernannt, das ungefähr unserer Wiener Volksoper entspricht, und nach genau fünf Jahren ist er jetzt zum Leiter der Staatsphilharmonie in Moskau berufen worden. Das ist das Größte, das ein Russe in seiner Heimat in seinem Berufsleben überhaupt erreichen kann. Er hat mit dem Orchester auch sogleich eine höchst erfolgreiche Amerika-Tournee gemacht und ist fraglos heute unter die fünf oder sechs ersten Dirigenten der Welt einzureihen. »
Doch kommen wir zur neuen Melodiya-Box. Einen sehr besonderen Charakter hat die erste CD mit den ältesten Aufnahmen – sie stammen aus dem Jahre 1973 -, mit dem Kammerorchester der Moskauer Philharmoniker. Der 33-jährige Kitajenko steigt hoch virtuos in Edward Griegs ‘Holberg Suite’ ein, während das Andante espressivo schon fast zum ‘depressivo’ wird. Ähnlich düster und beklemmend wirkt die Sarabande in Corellis Streichersuite Nr. 7, während Griegs Andante religioso und das Andante cantabile aus den ‘Arie e Danze antiche’ von Ottorino Respighi wunderschön zart ausgesungen werden. Alle übrigen Tanzsätze dieser drei Stücke werden sehr tänzerisch inszeniert, wobei besonders in der Grieg-Suite die Volksmusik unmittelbar spürbar wird.
Eine sehr italienisch klingende und zudem sehr opernhafte ‘Messa di Gloria’ von Giacomo läutet den Vokalteil dieser Sammlung ein. Es ist im Übrigen wirklich erstaunlich, dass Kitajenko im sowjetischen Russland geistliche Musik auf seine Programme setzen durfte, wo diese doch als reaktionär galt und vielerorts im Ostblock geächtet war.
Die Puccini-Messe ist in vielen Hinsichten, besonders im Chorgesang und in ihrer musikdramaturgischen Anlage vorbildlich. Problematisch sind nur die Solisten Konstantin Lisovsky, Tenor, und der Bass Alexander Vedernikow, die zwar rein stimmlich gut sind, aber allzu sentimental singen.
Die Live-Aufnahme des Deutschen Requiems von Johannes Brahms vom 17. Juni 1977 beeindruckt durch die global ernsthafte und engagierte Interpretation sowie durch den sehr differenzierten Chorgesang.
Auf halbem Weg zwischen Oratorium und Oper ist Donizettis ‘Miserere’ ein Werk von bemerkenswerter Breite und Schönheit. Kitajenko dirigiert es hoch emotional, kontemplativ und im Ausdruck sehr textbezogen. Das aktuell nur durch eine Hungaroton-Aufnahme im Katalog vertretene ‘Miserere’ ist hier in einer Referenzaufführung zu hören. Ätherische Damenstimmen, wunderbar volle und schwarze Bässe: allein der Chor ist von phänomenaler Wirkung, und die Aufnahme zeigt, wie sehr die Meinung derer begründet war, die den jungen Dirigenten in die Richtung des Chordirigenten bewegen wollten. Gute Solisten festigen den hervorragenden Eindruck, den diese Aufnahme hinterlässt.
Nach dieser Spitzenleistung im Donizetti-Miserere folgt die unzweifelhaft beste Einspielung der ‘Glocken’ von Sergei Rachmaninov. Die Vertonung von Edgar Allen Poes Gedicht ‘The Bells’ hat Kitajenko immer wieder dirigiert, und er setzt das Werk auch heute noch gerne aufs Programm seiner Konzerte. In dieser Melodiya-Einspielung von 1985 erklingt die Musik in brillanter Klangpracht als sinfonisches Tongemälde, das nicht nur Poes Handlung wiedergibt, sondern auch ein musikalisches Porträt der russischen Seele zeichnet. Kitajenko bindet Chor, Orchester und Solisten mit charismatischem Dirigieren in einen einzigen, wohl ausbalancierten, farblich wunderbar abgemischten, packenden Klangstrom. Die Solostimmen sind gut, wobei Yuri Mazurok im Finale, den ‘Totenglocken’, mit einer sängerisch–darstellerischen Höchstleistung aufwartet.
In ihrer tiefschürfenden Art und ihrer elektrisierenden Spannung ist die Aufnahme der 10. Symphonie Dmitri Shostakovichs erschütternd. Hier erreicht Kitajenko einen Grad an musikalischer Unmittelbarkeit und an psychologischer Wahrheit, den nicht viele Dirigenten so zwingend umsetzen können.
Die letzte CD beginnt mit dem quirlig-humoristischen ersten Satz von Prokofievs Klassischer Symphonie. Diesen verschmitzten Humor verliert Kitajenko während der ganzen Symphonie nicht, die er bestimmt mit Augenzwinkern dirigiert hat. Absolut köstlich! Als musikalischer Preziose inszeniert Kitajenko die ‘Tanzsuite nach Couperin’ von Richard Strauss. Und beendet wird die CD mit einer sportlich virtuosen, schlanken und in allen Hinsichten ‘richtigen’ Version der Konzertfantasie op. 56 von Piotr Tchaikovsky.
Über den Wert der einzelnen Interpretation hinaus ist diese Melodiya-Box ein hoch wichtiges Zeitdokument, das ein sehr gutes Bild dessen liefert, was Dmitrij Kitajenko in seiner Moskauer Zeit mit den Moskauer Philharmonikern an Musik aufführte. Denn, wie er in unserem Interview sagt, dirigierte er in Moskau vor allem Werke westlicher Komponisten, weil das Publikum die Musik zu hören wünschte. Die Box ist also, musik-soziologisch gesehen, die Fotografie eines variantenreichen Kultur-Tatbestands!
Even many of his admirers never heard Dmitrij Kitajenko in a non Russian repertoire. So here is a fabulous opportunity to discover a conductor showing an evident flair for Italian and German music, especially with some big choir works. There are some Russian Highlights too and altogether this is a very desirable reissue, not to be missed!