Herr Uhlig, mehr als zehn Jahre sind nun ins Land gegangen seit dem Beginn Ihrer Gesamteinspielung aller Klavierwerke von Robert Schumann. Wie hat damals eigentlich alles angefangen, wie sind Sie auf die Idee gekommen eine neue Gesamteinspielung zu beginnen und dabei auch alle Fragmente und alternative Versionen einzubeziehen?
Dazu muss ich in das Jahr 1997 zurückgehen, als ich im Londoner Barbican Centre mein Orchesterdebüt mit Clara Schumanns Klavierkonzert gab. Im Vorfeld des Projektes war ich mit dem herausragenden Schumann-Forscher Joachim Draheim in Kontakt getreten. Er arbeitete nämlich zu diesem Zeitpunkt an einer Neu-Edition des Klavierkonzertes von Clara Schumann. Wir waren auch danach zum Thema Schumann in regem Austausch geblieben, und als sich im Jahr 2010 der 200. Geburtstag von Robert Schumann näherte, war gemeinsam mit meinem Label Hänssler Classic und Joachim Draheim der konkrete Plan entstanden, alle Werke Robert Schumanns, aber auch wirklich alle, einzuspielen.
Was war für Sie persönlich die größte Repertoire-Entdeckung, die sich im Zuge der Aufnahmen ergeben hat?
Es ist schwierig, die unglaubliche Reichhaltigkeit des Schumannschen Klavierschaffens mit allen Verästelungen auf mögliche Highlights zu reduzieren. Vielleicht aber ist die für mich bedeutsamste Repertoire-Entdeckung Schumanns Beschäftigung mit ganz bestimmten Themen bzw. Sujets, die er über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgte und die sein Oeuvre wie ein roter Faden durchziehen. Da wäre zunächst Schumanns Faszination mit der (pianistischen) Virtuosität, seine Auseinandersetzung mit dichterisch-literarischen Vorlagen, hernach seine Konzentration auf bestimmte Gattungsmodelle wie zum Beispiel die Variation, die Sonatenform oder das Charakterstück, seine unendlich vielfältigen und kreativen Herangehensweisen an das Thema Kontrapunktik und – nicht zuletzt – die Verarbeitung eigener Lebenserfahrungen und -stationen. Vor diesem Hintergrund haben wir die CD-Edition nicht chronologisch angelegt, sondern nach eben diesen zentralen gestalterischen Themen.
Gibt es ein Stück, das Sie vorher schon gut kannten, zu dem sich, dadurch, dass Sie sich auch mit den alternativen Versionen beschäftigt haben, ein ganz neuer Zugang ergeben hat?
Ja, ein sehr wirkungsstarkes Beispiel sind die langsamen Sätze der Kreisleriana. Schumann weicht in der späteren Fassung nicht nur vom ursprünglichen Notenmaterial ab, sondern nimmt Veränderungen, gar Präzisierungen an der Dynamik und an manchen Tempobezeichnungen vor. Beim Nachspüren solch alternativer Versionen geht es keineswegs um erbsenzählerisches Nachklauben texteditorischer Relevanzen, sondern um das Erleben und Erlebbarmachen atmosphärischer und charakterlicher Valeurs. Wie inspirierend es ist, die Frühfassung in späterer Ausgabe in noch verinnerlichterem, zart singendem Gewand zu erspüren!
Wenn man sich mehr als zehn Jahre mit einem Komponisten so intensiv beschäftigt, lernt man ihn in all seinen Facetten kennen. Was ist denn aus Ihrer Sicht dran an den noch immer viel gehörten Vorurteilen, z.B. dass der frühe Schumann besser komponiert habe als der späte oder dass das Spätwerk gar von der fortschreitenden Geisteserkrankung Schumanns negativ beeinflusst sei?
Schumann gehört zu den Komponisten, die das große Pech hatten, fast noch zu Lebzeiten erstaunlich miserabel biografiert worden zu sein. Bis zum heutigen Tag halten sich hartnäckig Ammenmärchen, haltlose Übertreibungen, Wertungen und Vorurteile. Ein weltfremdes, romantisches Genie sei er gewesen, verträumt und unverstanden, einst zerfressen in seiner unerfüllten Liebe zu Clara Wieck, schließlich geistig umnachtet in einer Provinzklapsmühle bei Bonn. Dass Schumann ein sehr geschickter und disziplinierter Geschäftsmann und Brückenbauer mit Weitsicht und Organisationsgeschick war, fällt in den oftmals Groschenromanen gleichen Versuchen einer Biografie unter den Tisch.
Freilich war Schumann – kompositorisch betrachtet – in seinen jungen Jahren draufgängerisch, kühn, wagemutig und abenteuerlustig, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich sowohl in den späteren Fassungen früherer Werke als auch in seinen späteren Kompositionen schlechthin manche künstlerisch-knittrige Falte glättete. Aber das Einglätten mancher Verläufe fußte auch auf einem über die Jahre natürlich entwickelten, tieferen und pragmatischeren Verständnis für die Möglichkeiten des Instruments, seiner Spielbarkeit und seiner Hörbarkeit im Konzertsaal. Wir dürfen vermuten, dass Clara, die sich ja schon sehr früh für die Verbreitung des Schumannschen Klavierwerks einsetzte, einen nicht unmaßgeblichen Anteil an solchen Anpassungen und Präzisierungen hatte. Es soll bisweilen vorkommen, dass Komponisten auf den Expertenrat ihrer Interpreten hören. Dies muss nicht notwendigerweise mit der Vermutung einer fortschreitenden Geisteserkrankung einhergehen.
Wie kam es dazu, dass Sie die gesamte Albumreihe in England aufgenommen haben?
Im Jahr 2004 hatte ich das Vergnügen, in London, wo ich über 20 Jahre lang gelebt habe, eine CD mit Werken des sehr interessanten englischen Komponisten Bernard Stevens aufzunehmen. Die damalige Zusammenarbeit mit dem Tonmeister Mike Purton und dem mittlerweile schon legendären Toningenieur Tony Faulkner war dermaßen beglückend, dass ich mit den beiden das Schumann-Projekt aufnehmen wollte. Never change a winning team!
Nun ist Ihre, die bislang vollständigste aller Schumann-Gesamtaufnamen, beendet und steht nun also auch neben den Ausgaben der Vergangenheit. Haben Sie sich eigentlich auch mit den Aufnahmen von Demus und Le Sage beschäftigt oder haben Sie sich vielleicht sogar bewusst davon ferngehalten, um den eigenen Fokus nicht zu verlieren?
Selbstverständlich kenne und schätze ich die Schumann-Aufnahmen von Jörg Demus und Eric Le Sage. Als junger Klavierschüler habe ich Jörg Demus mindestens zweimal live im Konzert erlebt. Mit Eric Le Sage bin ich freundschaftlich verbunden und habe ihn vor einigen Jahren mit einem Schumann-Recital zu meinem Festival nach Johannesburg in Südafrika eingeladen. Freilich gibt es auch außerhalb dieser beiden Schumann-Editionen viele Pianistinnen und Pianisten, die hervorragend Schumann spielen. Ich habe mich nicht bewusst von den Lesarten der Kollegenschaft ferngehalten oder gar versperrt, aber durch die sehr intensive Beschäftigung mit der Materie über einen Zeitraum von weit mehr als zehn Jahren habe ich meine eigenen Erkenntnisse und Perspektiven gewinnen dürfen.
Ich habe den Eindruck, dass Schumanns Klaviermusik nach wie vor den Ruf einer Musik für Enthusiasten und Spezialisten hat. Auch von Konzert-Veranstaltern wird sie – bis auf einige offensichtliche und sehr bekannte Werke – nur selten aufs Programm gesetzt. Woran liegt das ihrer Meinung nach?
Ich gehe davon aus, dass Pianisten hoffentlich in den meisten Fällen selbst entscheiden können, welche Werke sie gern in ihren Klavierabenden präsentieren möchten. In der symphonischen Musik sind die Programmmechanismen freilich etwas anders gelagert. In der Tat, für Schumanns Klavierwerk braucht man eine große Portion an pianistischem Enthusiasmus – und, mit Verlaub gesagt, eine nicht minder große Portion an pianistischem Vermögen. In meiner Rolle als Lehrender, zunächst in Dresden, nun seit vier Semestern an der Musikhochschule Lübeck, erlebe ich seit Jahren begabte junge Pianistinnen und Pianisten bei den Aufnahmeprüfungen, die technisch sehr anspruchsvolle Werke zum Beispiel von Chopin und Liszt sehr überzeugend meistern. Bei Schumann hingegen beißen sich viele, auch spieltechnisch betrachtet, die Zähne aus. Der weitgriffige, oftmals ungeschmeidige Satz, die polyphone Faktur und die im Vergleich zu Chopin und Liszt viel höhere harmonische Schrittrate, die einen ausgefeilten Pedaleinsatz erfordert, bieten eine perfekte Rezeptur für pianistisches Bauchweh. Da machen viele einen Bogen drum.
War es schwierig für Sie persönlich, die Klaviermusik von Schumann auch in Konzerten zu platzieren?
Kurze Antwort: nein.
Neville Marriner hat einmal gesagt: Eine Zeit lang lief sein Orchester, die Academy of St. Martin in the Fields, Gefahr, nur noch als „das Mozart-Orchester“ wahrgenommen zu werden, und das wäre für ihn der blanke Horror gewesen. Haben Sie die Befürchtung, dass Sie fortan nur noch als ‘der Schumann-Pianist’ wahrgenommen werden?
Eigentlich ist es doch schön und erfüllend, wenn man mit einem bestimmten Komponistennamen in Verbindung gebracht wird. In meinem Fall habe ich während der letzten zehn Jahre eine Reihe anderer Projekte, auch diskografisch, bei meinem Label Hänssler Classic machen dürfen, als da wären das Gesamtwerk für Klavier solo von Maurice Ravel, zwei CDs mit Klavierkonzerten von Ravel, Debussy, Poulenc, Françaix, Boulanger und Tailleferre, sowie das Klavierkonzert von Penderecki. Für Berlin Classics gab es eine Kammermusikaufnahme mit Schumann. Schumann und andere Projekte ergänzen sich, sie beleuchten einander.
Was steht denn nun für Sie an? Was kommt nach Schumann? Werden Sie weiterhin Alben aufnehmen oder sehnen Sie sich nach dieser intensiven Zeit vielleicht sogar nach einer Aufnahmepause?
Es wird tatsächlich noch eine weitere Schumann-CD für die Gesamtaufnahme geben, und zwar eine Platte mit Werkfragmenten aus Schumanns Kompositions-Werkstatt. Es ist hochspannend und berührend, diese Momentaufnahmen und Ist-Zustände der im Werden begriffenen Werke hörbar zu machen. Die Aufnahme wird nicht als Einzelrelease veröffentlicht, dazu ist sie auch nicht lang genug, sondern kommt quasi als Supplément – im Sinne der Lisztschen Années de pèlerinage – in eine Gesamtbox. Ansonsten von Müßiggang und Aufnahmepause nicht die Spur: Für Berlin Classics habe ich kürzlich mit der Oboistin Céline Moinet und der Fagottistin Sophie Dervaux eine weitere Kammermusikplatte mit Werken von Ravel, Debussy, Poulenc und Saint-Saëns aufgenommen. Die Veröffentlichung steht in Bälde an. Überdies entsteht derzeit mit dem Cellisten David Stromberg eine CD mit dem Duplex Coupler Grand Piano, einem zweimanualigen Konzertflügel, der ungeahnte klangliche Möglichkeiten besitzt. Und in der Schublade liegen weitere Ideen, die ich noch geheim halte…