Frans Brüggen war eine Ikone der historischen Aufführungspraxis. Von langer Krankheit gezeichnet, gebrechlich, gebeugt, musste er in den letzten Jahren meistens ans Pult geführt werden. Dort aber zeigte er, dass es nicht nur Gestik ist, die einen Dirigenten ausmacht, sondern Charisma, Ausstrahlungskraft. Am Pult war Brüggen immer noch die zentrale Figur des Musikgeschehens, auch wenn seine Zeichengebung ganz gering war. Mit kleinen Bewegungen der Hand oder einem Kopfnicken erzielte er Rubato und Dynamik-Nuancen.
Frans Brüggen studierte in seiner Heimatstadt Amsterdam zunächst Blockflöte. Er schloss als einer der ersten in den Niederlanden das Hauptfach Blockflöte mit dem Diplom ab. Bald galt er als einer der bedeutenden Blockflötenspieler des 20. Jahrhunderts und als jemand, der zu einer Renaissance dieses Instruments beitrug. Mit 21 Jahren bereits wurde er zum Professor am Königlichen Konservatorium von Den Haag ernannt. Später wirkte er als Professor in Harvard und Berkeley. Besonders verdient gemacht hat er sich um die Wiederentdeckung verschollener Meister des 17. und 18. Jahrhunderts. Seine Interpretationen barocker und frühbarocker Werke erlangten enorme Popularität und übten großen Einfluss auf eine große Anzahl jüngerer Musiker aus. Die Blockflöte wurde durch ihn als Konzertinstrument wieder salonfähig gemacht.
In den Achtzigerjahren widmete er sich verstärkt der Orchesterleitung. 1981 gründete er das Orchester des 18. Jahrhunderts (Orchestra of the 18th Century). Von 1991 bis 1994 leitete er das Niederländische ‘Radio Kamerorkest’. Auch mit dem ‘Orchestra of the Age of Enlightenment’ arbeitete er eng zusammen.
Als Verfechter eines historisch begründeten Musizierens war Brüggen kompromisslos und unbeugsam, immer davon überzeugt, dass er einzig und allein dem gespielten Werk zu dienen hatte. Ob in der Alten Musik, im Barock, der Klassik oder der Frühromantik ging es ihm als Interpret stets nicht nur um die Form, sondern um die Durchhörbarkeit, mit der er den inneren Reichtum der Musik darstellen und ihre Aussage deutlich machen wollte.
So schrieb Pizzicato über eine CD-Aufnahme: « Wer gedacht hatte, Gardiners Johannes-Passion sei von extremer, fast opernhaft dramatischer Natur, wird sich wundern: Frans Brüggen geht noch weit temperamentvoller an Bachs Monumentalwerk heran. Die Puristen werden entsetzt sein. Und doch: die Musik blüht auf, sie spricht zu uns wie nie zuvor. Bereits die Instrumentaleinleitung mit ihren strengen, fast martialischen Rhythmen lässt keinen Zweifel aufkommen: in diesem Stück wird etwas Schlimmes passieren. »
Auch seine Beethoven-Symphonien mit dem ‘Orchestra of the 18th Century’ bei Philips erstrahlten von innen her, polyphon ausgeleuchtet, wie man es bis dahin nie gehört hatte. In der Klangbalance erfolgte eine Gewichtsverlagerung zugunsten der Holzbläser, wodurch der immense Farbenreichtum der Orchestrierung deutlich wurde wie sonst nie.
Als Haydn-Interpret wurde er in unserer Magazin gefeiert: « Frans Brüggen dirige les deux symphonies de Haydn avec autant d’énergie que de grâce. La tension y est, l’entrain aussi, et nous ne cessons d’admirer la finesse du jeu et la beauté sonore de l’Orchestre du 18e siècle. Jamais on n’a l’impression que Brüggen joue pour faire référence, et rien n’est prétentieux dans sa lecture. Son dynamisme n’a nullement un côté trop systématique, ses accents ne sont pas trop accusés et rien n’est tranchant. En somme, donc, une sonorité très agréable et imprégnée d’une impulsivité dramatique qui rend pleinement justice aux deux compositions. »
Das ist die eine Seite der Medaille. Denn gemäss unseren Erfahrungen in Aufnahmen wie auch im Konzertsaal ist Frans Brüggen ein Dirigent, der zu einer eindringlichen, lebendigen Klangrede gerade so fähig ist wie zu einer nüchternen, ins Langweilige tendierenden Interpretation. Nicht selten hatte man bei ihm das Gefühl, das Musikwissenschaftliche überwiege in seinem Interpretieren. Er selbst sagte einmal: « Wer Mozart rein aus dem Gefühl heraus interpretiert, dessen Arbeit ist nicht seriös. Da kann sie noch so genial sein, wissenschaftlich gesehen ist sie wertlos. Und Musik ist natürlich sehr viel Wissenschaft. »
Auf der anderen Seite war Frans Brüggen kein sturer Dogmatiker. Er arbeitete auch mit modernem Instrumentarium und erzielt dabei gute Ergebnisse, überzeugt davon, dass « Achtzig Prozent im Kopf stecken und nur zwanzig im Instrument… »