Friedrich Kleinhapl, was ist Tango für Sie?
Als wir begonnen haben uns mit dem Tango zu beschäftigen, war es so, als ob wir eine Nuss knacken würden. Doch als wir die Schale öffneten, kam darin etwas Größeres zum Vorschein, etwas das in dieser Nussschale eigentlich gar keinen Platz finden hätte können. Und als wir daran gingen dieses größere Etwas zu öffnen, steckte darin wieder etwas noch Größeres. Und so ging das weiter.
Das heisst?
Ich bin es gewohnt mich mit Klischees auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen, in die verborgenen Ecken zu leuchten und irgendwelche alte Krusten abzukratzen, die sich in meiner Vorstellung über die Jahre abgesetzt haben. Das ist ja Teil der Auseinandersetzung mit jedem Repertoire.
Doch bei der Auseinandersetzung mit dem Tango jagte wirklich eine Überraschung die andere, angefangen von der Tatsache, dass der Tango kein altes argentinisches Kulturgut, sondern gerade einmal um 1900 entstanden ist; dass noch um 1920 Brasilianer und Argentinier darum stritten, wer Urheber des Tangos war, dass er ursprünglich massivst verpönt war usw. usw.
Man muss sich das schon vor Augen führen, wenn man verstehen will was Piazzolla mit seinem Tango Nuevo später geleistet hat. Denn als er 1955 von Paris zurückkehrte und in Buenos Aires den Tango Nuevo schuf, hatte er gegen genau diese felsenfeste Überzeugung der Argentinier zu kämpfen. Man warf ihm vor, dass er ihre uralte Tango-Tradition zerstören würde. Er war deswegen so verhasst, dass er und seine Familie oft nicht mehr auf die Strasse gehen konnten und er Argentinien immer wieder verlassen musste.
Rein musikalisch war die Überraschung aber ebenso groß. Hinter meinem klischeehaften Bild von südamerikanischer Salonmusik entdeckte ich ein Abbild des ganzen Lebens, Stimmungen und Emotionen, die nicht auf Erotik und Leidenschaft beschränkt sind, wie ich es eigentlich erwartet hatte, sondern die Trauer, Freude, Angst, Liebe, Hass, Verzweiflung, Verträumtheit, Ausgelassenheit – einfach das ganze Leben – abbilden.
Speziell den Tango Nuevo betreffend gibt es schließlich noch eine weitere große Überraschung, die ich mir nie bewusst gemacht hatte. Piazzollas Musik hat in den letzten Jahrzehnten Einzug in die großen Tempel der Klassik gehalten. Und das, obwohl man sich oft fragen muss, was Piazzolla eigentlich genau ist. Denn in seiner Musik gibt es die Frage von Werktreue und Original ganz im Gegensatz zur Klassik nicht. Hier gibt es unendlich großen Freiraum, um sich abseits der Originalpartituren zu bewegen. Seine Musik ist kein Territorium für Musikwissenschaftler, die erforschen, ob die Phrasierung so wie in diesem oder jenem Werk von Beethoven oder Brahms in Takt so und so vielleicht völlig anders gemeint war. Im Tango Nuevo gibt es Freiheiten für Arrangements, Formveränderungen, Instrumentierungen, Interpretationen, die es in der Klassik nicht gibt, sondern nur im Jazz, der Volks- oder Popmusik.
Tango und Piazzolla bedeuten für mich aus heutiger Sicht daher vielleicht so etwas wie Freiheit, den Augenblick, den Moment das Leben auszudrücken.
Wo kam der Drang her, eine solche Tango-CD aufzunehmen?
Das begann alles etwas eigenartig: 2003 spielten Andreas Woyke und ich unser erstes gemeinsames Konzert, ein kurzer Auftritt quasi als Test, ob wir miteinander harmonieren. Und obwohl wir seither praktisch ausschließlich klassisches Repertoire gespielt haben, begann unsere Zusammenarbeit damals mit dem ‘Grand Tango’ von Astor Piazzolla. Wir haben ihn seither oft und oft gespielt. Und wir wurden, wo immer wir ihn auf der Welt spielten unzählige Male nach einer CD Einspielung gefragt. Den letzen Ausschlag dazu hat schließlich meine Frau Heidrun Maya gegeben. Andreas und ich hatten großen Respekt, uns intensiver auf das Thema ‘Tango’ einzulassen. Wir wussten, dass es nicht einfach sein würde, die Stücke zu bearbeiten, einen eigenen Zugang dazu zu entwickeln. Aber Heidrun Maya forderte uns immer und immer wieder dazu auf, diesen Schritt endlich zu machen. Wir sind ihr sehr dankbar dafür und der Erfolg der CD gibt ihr auch Recht.
War es schwierig, die Musik Piazzollas für Klavier und Cello zu bearbeiten?
Für viele Kollegen mag so ein Bearbeitungs-Prozess etwas ganz Normales sein. Für uns war es ein intensiver Weg, nicht ohne Höhen und Tiefen. Beinahe alle Werke, die wir ausgewählt hatten, sind im Original für Quintett, Oktett oder größere Besetzungen komponiert. Natürlich gibt es bereits zahllose bestehende Arrangements für Cello und Klavier. Aber wir hatten andere Vorstellungen. Die Reduktion der Stimmen war dabei der überschaubare Aspekt. Eine ganz andere Frage war aber, wie sich trotz der Reduktion der Instrumente alle Klangfarben umsetzen lassen würden, wie jedes Stück trotz dieser kleinen Besetzung seinen ganz eigenen Charakter bekommen würde, das war uns lange Zeit unklar. In Caracas, bei einem Konzert mit dem Simón Bolívar Orchester, nahm ich den ersten Anlauf. Ich bat einen in Venezuela sehr bekannten Komponisten um einen ersten Versuch einer Bearbeitung. Dem folgten weitere Anfragen bei Komponisten in Europa und schließlich in Hollywood. Wir machten aus diesen Bearbeitungen in einem langen Prozess schließlich unser Eigenes.
Was ist anders, wenn man Tango spielt? Was muss man aus seiner klassischen Schule vergessen, und was muss als man ‘Klassiker’ hinzulernen?
Vor vielen Jahren bin ich als Cellist an einen ganz entscheidenden Punkt gelangt. Ich war bis dahin ein ‘Schön-Spieler’, der seinen Ton aufs Äußerste zu kultivieren versucht hatte. Dann sah ich eine Carmen-Aufzeichnung mit Giuseppe di Stefano als Don José – es war, als ob ich erstmals in das wahre Leben eingetaucht wäre. Plötzlich stellten sich mir tausend Fragen: muss klassische Musik immer schön gespielt werden? Oder ist Schönheit nur EINE Gestaltungsform des Tons, EIN Mittel um etwas Größeres, das hinter der Musik liegt auszudrücken und sind andere Mittel und Klangfarben dazu ebenso notwendig? Als Musiker hat mich dieses Erlebnis grundlegend verändert. Seither polarisiere ich mit meinem Spiel sicherlich, versuche nicht mehr Ecken und Kanten in der Musik zu runden und abzufeilen, sondern sie vielleicht noch herauszuarbeiten, ihnen kompromisslos Charakter zu geben. Anfangs wurde das sicherlich oft mit Befremden aufgenommen. Aber die Zeit hat sich gewandelt, denn überall wo ich oder wir spielen – von Nord- und Südamerika über Europa bis nach Japan erleben wir viele Menschen die glücklich und dankbar sind, auf einer ganz tiefen Gefühlsebene betroffen zu sein, von dieser Art Musik zu machen.
Ich denke, dass der Tango genau das in extremer Weise fordert und dass darin die größte Herausforderung für klassische Musiker liegt. Es erfordert einen völlig neuen Zugang zum Instrument, den Umgang mit neuen Techniken, Klangidealen, das Ausloten der eigenen Grenzen und die des Instruments.
Wie verlief der kreative Prozess mit dem Pianisten Andreas Woyke, der ja einen gewissen Jazz-Background hat?
Wie ein Ping-Pong Spiel. Einer von uns beiden hatte eine Idee, die der andere aufgriff und weiterentwickelte und so weiter. Die Jazz-Affinität von Andreas hat hier sehr zum Gelingen beigetragen. Starke Impulse kamen auch in diesem Prozess von Heidrun Maya. Sie ist keine Musikerin. Wir arbeiten aber zusammen in der Entwicklung und Umsetzung von einigen sehr spannenden Kunstprojekten. Mehrere Male regte sie uns durch ihr Feedback an, uns noch einmal mit dem einen oder anderen Stück zu befassen, was wirklich mutig war, denn ich war darüber im ersten Moment sicherlich nicht sehr ‘amused’.
Ihre Interpretationen sind sehr persönlich, nicht unbedingt so erotisch bzw. lasziv wie das, was argentinische Musiker produzieren. Kann oder soll man als Europäer überhaupt die authentische Tango-Stimmung reproduzieren?
Das war nie unsere Absicht. Wir hatten nie auch nur den leisesten Drang verspürt, originale argentinische Klangvorstellungen zu imitieren. Ganz im Gegenteil: wir wollten diese fantastische Musik aus unserer eigenen Position heraus ausloten – mit allen Gefühlsschattierungen, Höhen und Tiefen. Dabei hat sich uns ein völlig neuer, riesiger Kosmos geöffnet. Dem lateinamerikanischen Machismo haben wir dabei sicher weniger Bedeutung zukommen lassen als man das bei Tangos normaler Weise gewohnt ist.
Tango ist ja ein sehr expressiver Tanz. Hat das Wort ‘Tanz’ in Ihren Interpretationen noch eine große Bedeutung? Oder ist der Tango für Sie eher Kunstmusik?
Ich denke, dass spätestens Piazolla aus den Tangos Kunstmusik gemacht hat. Er hatte, soweit ich weiß, nie die Absicht, dass seine Musik getanzt werden konnte.