Claude Vivier: Lonely Child für Sopran und Orchester + Love Songs für vier Frauen- und drei Männerstimmen a capella + Pulau Dewata für Orchester + Shiraz für Klavier + Zipangu für Streichorchester; Katrien Baerts, Sopran, Akiko Okabe, Klavier, Neue Vocalsolisten, Holst-Sinfonietta, WDR Sinfonieorchester, Bas Wiegers, Klaus Simon; 1 CD Bastille Musique 13; Aufnahme 2013-2019; Veröffentlichung 12/2020 (78'38) – Rezension von Uwe Krusch
Das Werk des im vierten Lebensjahrzehnts ermordeten kanadischen Komponisten Claude Vivier ist von biographischen Zügen wie seiner unbekannten Familienherkunft, der Suche nach der Mutter, seiner Homosexualität und seinen religiösen Bekenntnissen geprägt. Dazu kommen Einflüsse von seinen Reisen u. a. nach Bali (daher etwa auch der Werktitel Pulau Dewata, die Götterinsel), Japan und in den Iran.
Aus seinem Werkkatalog wurden fünf Arbeiten unterschiedlicher Besetzung eingespielt, die jedes sowohl mit deutlich motorisch notierten Anteilen als auch linienhaft schwingenden Passagen aufwarten. Daraus bildet sich eine spannende Reise zu diesem Komponisten, der auch bei Karlheinz Stockhausen unterrichtet wurde.
Lonely Child ist ein langer Klagegesang über die Einsamkeit, der nur mit einer Melodie ohne Akkorde, Harmonien oder Kontrapunkt auskommt. Vivier ging es vor allem um Klangfarben. Vivier vertonte dazu einen eigenen französischen Text, der als Gute-Nacht-Geschichte über Elfen und Feen gelesen werden kann, abgewechselt mit Abschnitten seiner Fantasiesprache. Der belgischen Sopranistin Katrien Baerts gelingt es wunderbar, den verschiedenen Effekten aus reich verzierten außergewöhnlichen klassischem und Sprechgesang Tiefe und Klarheit einzuhauchen und dies ästhetisch ebenso einfühlsam wie nachdrücklich zu modellieren.
Ebenso offene Aspekte lässt Pulau Dewata, das keine Instrumentierung vorgibt und hier in einer orchestralen Fassung erklingt. Das einem Streicherapparat vorbehaltene Zipangu wird mit intensiver Geste der ungewohnten Streicherklänge ebenfalls von der Holst-Sinfonietta eindrucksvoll dargeboten und lohnt genauso ein zweites Hören.
In den Einspielungen zeigen sich das WDR Sinfonieorchester und die Holst-Sinfonietta als mit den Spielarten der Moderne bestens vertraute Klangkörper, die die an Farben und ungewohnten Klangstrukturen reiche Musik ausdrucksstark gestalten. Sie bewältigen dabei die Ebenen der Werke mit Sinnlichkeit für den Klang und Aufmerksamkeit für die strukturellen Gestaltungen überzeugend.
Akiko Okabe kann dem Klavierstück Shiraz die Bedeutung als Ursprung des persönlichen Stils von Vivier deutlich machen. Neben der Nähe zum Werk Messiaens mit der Nutzung mathematischer Strukturen kann man in dem Werk auf Bezüge zu der Toccata op. 7 von Robert Schumann erblicken. Die generell homophone Textur mit zwei Stimmen pro Hand kann Okabe ebenso technisch sicher wie mit der notwendigen Gestaltungsfreude formulieren.
Ein Höhepunkt der Aufnahme sind die titelgebenden Love Songs, die die Neue Vocalsolisten als Mischung aus Konzert, Theater und Musiktheater präsentieren, was selbst beim Hören deutlich wird. Dieses Vokalwerk saugt die freie Luft der Siebzigerjahre ebenso wie es sie ironisiert, indem es freie Liebe, Spiritualität sowie der Ablehnung von Regeln thematisiert. Berühmte Liebespaare wie Romeo und Julia oder Tristan und Isolde werden wiederholt zitiert. Die Besetzung wechselt ständig zwischen Soli, Duetten, Gruppierungen bis hin zu Tutti-Passagen.
Alles zusammen ist Bastille Musique in der technischen Umsetzung und den vom Label eingebundenen Interpreten eine spannende Reise in die Welt des Claude Vivier gelungen.
The work of the Canadian composer Claude Vivier, who was murdered in 1989, is characterized by biographical features such as his unknown family origins, the search for his mother, his homosexuality and his religious confessions. In addition, there are influences from his travels to Bali (hence the work title Pulau Dewata, the Island of the Gods), Japan and Iran.
Five works from his catalog were recorded with different instrumentation, each with clearly notated motoric parts as well as linearly oscillating passages. The result is an exciting journey to this composer, who also studied with Karlheinz Stockhausen.
Lonely Child is a long lament about loneliness, using only a melody without chords, harmonies or counterpoint. Vivier was primarily concerned with timbres. Vivier set his own French text to music, which can be read as a bedtime story about elves and fairies, alternating with sections of his fantasy language. The Belgian soprano Katrien Baerts succeeds wonderfully in breathing depth and clarity into the various effects of richly ornamented extraordinary classical and sprechgesang and in modelling this aesthetically as sensitively as emphatically.
Pulau Dewata, which does not specify any instrumentation and is heard here in an orchestral version, also leaves open aspects. Zipangu, which is reserved for a string section, is also impressively performed by the Holst Sinfonietta with the intense gesture of the unusual string sounds and is equally worth a second listen.
In the recordings, the WDR Sinfonieorchester and the Holst-Sinfonietta show how well acquainted they are with modern music. Their performances are colorful, expressive and convincingly master the levels of the works with sensuality for the sound and attention for the structural designs.
Akiko Okabe is able to make clear the importance of the piano piece Shiraz as the origin of Vivier’s personal style. Besides the closeness to the work of Messiaen with its use of mathematical structures, one can see references in the work to the Toccata op. 7 by Robert Schumann. Okabe is able to formulate the generally homophonic texture with two voices per hand both technically confidently and with the necessary joy of design.
A highlight of the recording are the Love Songs, which the Neue Vocalsolisten present as a mixture of concert and musical theatre. This vocal work breathes the free air of the seventies as much as it ironizes it, addressing free love, spirituality as well as the rejection of rules. Famous love couples such as Romeo and Juliet or Tristan and Isolde are repeatedly quoted. The cast constantly changes between solos, duets, various groups up to tutti passages.
So, Bastille Musique has succeeded in creating an exciting journey into the world of Claude Vivier.