– ein Interview von Alain Steffen –
Alain Steffen hat mit dem 1960 geborenen britischen Komponisten einstigen Lieblingsschüler Olivier Messiaens, George Benjamin, ein Gespräch geführt.
Von was wird der Komponist George Benjamin inspiriert?
Von dem, was auch den Menschen George Benjamin berührt. Da gibt es keinen Unterschied! Allerdings ist es bei so, dass die Inspiration nicht an erster Stelle steht. Ich habe immer zuerst ein architektonisches Kompositionsmodell vor Augen, mal interessiert mich die Dynamik, dann wieder die Rhythmik, dann wieder die Farben. In einem solchen ganz speziellen musikalischen Gebilde bekommt die Inspiration im musikalischen Sinne ihre Wichtigkeit. Inspiriert werde ich in jedem Moment von der Welt um mich herum. Das kann eine Stimmung sein, das kann ein Gedicht von Yeats oder Wallace Stevens sein, ein Bild von Turner, ein spezielles Instrument. Stürme inspirieren mich sehr, ich liebe sie, die Natur, das Licht. Messiaen, mein Lehrer hat mich inspiriert.
Welche Bedeutung hatte Olivier Messiaen für Sie und Ihr Werk?
Messiaen war einer der wunderbarsten Menschen, die ich kennen gelernt habe. Ein sehr sanfter Mann mit einem großen Wissen. Er war neugierig, unwahrscheinlich neugierig, und wollte immer wieder Neues ausprobieren. Als Komponist war er einmalig, ich glaube, im 20. Jahrhundert muss man nach Claude Debussy sofort Olivier Messiaen nennen. Zudem war er ein großartiger Lehrer, der mich immer wieder angespornt hat, eigene Wege zu suchen und der mich mit seiner Musik zutiefst inspiriert hat. Ich war damals noch recht jung, sechzehn, siebzehn Jahre und sehr aufnahmefähig. Auch wenn ich heute vieles kritisch hinterfrage, die Liebe zu Messiaen ist immer geblieben.
Wie schätzen Sie die englische Avantgarde ein, oder, allgemeiner, die Entwicklung nach Britten und Tippett?
Jeder weiß, dass die englische Musik ihre eigenen Gesetze hat, ihre eigene Tradition. So wie man in Finnland, Deutschland und Italien eigene Stile hat, die sich natürlich von den jeweiligen Musiktraditionen ableiten, so hat sich auch in England die Musik weiterentwickelt. Aber eine wirklich nationale Schule gibt es, glaube ich, nirgendwo mehr. Die Zeiten, wo Komponisten isoliert ihre Musik komponierten und sich auf die Erfahrungen ihrer direkten Vorgänger berufen haben, sind vorbei. Die Musik ist international geworden. Das sehe ich bei mir selber. Ich bin zwar Engländer, kann aber den französischen Einfluss nicht verneinen. Und das ist auch gut so. Jeder Komponist hat heute fast die gleiche Ausgangsposition und die gleichen Mittel. Messiaen hat nicht nur mich, sondern viele andere Komponisten auβerhalb Frankreichs geprägt. Genau wie Boulez, Stockhausen und Ligeti.
Was jetzt die englische Avantgarde betrifft, da gibt es hervorragende Komponisten. Denken Sie nur an Harrison Birthwistle oder Oliver Knussen, an Peter Maxwell-Davies und Gavin Bryars. Jeder hat seinen eigenen, persönlichen Stil entwickelt und keiner dieser Komponisten kann man mehr aus dem englischen Musikleben wegdenken. Und wie in jedem anderen Land gibt es bei uns gute und weniger gute Musik.
Gibt es eigentlich eine Definition für gute zeitgenössische Musik?
Ich kann es nicht! Jede Musik, die ehrlich und handwerklich gekonnt ist, ist an sich gute Musik. Ob sie nun gefällt, ob sie die Menschen anspricht, das steht wiederum auf einem anderen Blatt.
Viele zeitgenössische Werke haben eine kurze Spieldauer. Trauen sich moderne Komponisten nicht mehr, lange Werke zu komponieren?
Das hat sehr viel mit der Entwicklung der Musik zu tun. Im Klavierkonzert etwa mussten Beethoven, Brahms, Schumann… zeittypischen Regeln folgen. Es gab Haupt- und Nebenthema, die Sonatenform, Exposition, Kadenzen, Themen und Melodien wurden wiederholt, variiert und so weiter. Die Entwicklung eines Stückes zog sich meistens über drei Sätze hinaus, wobei der erste, meistens ein Allegro, dann doppelt so lang wie die beiden folgenden, der Mittelsatz war ein Adagio, das Finale wiederum ein schneller, virtuoser Satz. Das waren Regeln, an die sich die Komponisten damals halten mussten.
Heute ist das zum Glück anders. Ich bin auch, ehrlich gesagt, nicht daran interessiert, mich zu wiederholen. Mein Interesse beim Komponieren liegt bei der klaren Aussage. Ich will dann nichts drum herum modellieren. Ausdruck und Entwicklung sollen so kompakt wie nur möglich sein. Ich will nicht linear komponieren, sondern vertikal, ein Maximum an Informationen schichtweise übereinander legen und handwerklich so vorgehen, dass alles hörbar bleibt und trotz dieser Vielschichtigkeit eine Evolution im Stück zu erkennen ist. Darum dauern meine Stücke meistens zwischen 10 und 20 Minuten. Das reicht auch vollkommen, dann ist das Essentielle gesagt. Wozu es noch x Mal wiederholen? Nur meine Oper ‘Into the Little Hill’ dauert länger, etwa doppelt so lang.
Was erwartet das Publikum denn von der zeitgenössischen Musik?
Die Frage darf ich mir als Komponist nicht stellen. Und ich stelle sie mir auch nicht. Denn wenn ich mich mit den Erwartungen eines Publikums beschäftigen oder gar einer Mode folgen würde, dann wäre ich als Komponist nicht mehr frei. Dann hätte ich immer im Hinterkopf den Wunsch, eine Musik zu schreiben, die gut ankommt. Oder ich müsste mir permanent die Frage stellen, ob die Leute meine Musik, so wie ich sie jetzt geschrieben habe, auch verstehen. Dann würde ich wiederum vieles ändern müssen, nicht aus künstlerischen Gründen, sondern aus Gründen, die die Außenwelt mir diktiert. Und wenn man da angelangt ist, wenn man sich deswegen plötzlich selber zensiert, dann ist man als Komponist auf dem Holzweg.
Nein, ich komponiere in erster Linie für mich, bringe das aufs Blatt, was mich inspiriert, was ich probieren will, was mir wichtig ist. Sehen Sie, ich lege beim Komponieren sehr viel Wert auf Präzision, auf Transparenz. Die Musik muss immer klar bleiben, unmissverständlich. Ich will etwas mit meiner Musik sagen, und das so klar wie nur möglich. Transparenz und Komplexität sind keine unvereinbaren Begriffe. Ich suche die Klarheit in der Komplexität.
Trotzdem gibt es viele Leute, die immer noch Angst vor zeitgenössischer Musik haben. Mozart und Beethoven sind doch viel einfacher zu verstehen als Boulez, Stockhausen oder Benjamin.
Nicht zu verstehen, sondern zu hören! Die Musik von Mozart und Beethoven war in ihrer Zeit auch sehr modern. Gustav Mahler wurde erst viele Jahre nach seinem Tod entdeckt. Diese Komponisten gehorchten anderen Gesetzen. Sicher ist ihre Musik gefälliger, wir kennen sie in- und auswendig, weil wir sie seit Jahren im Radio und im Konzert vorgesetzt bekommen. Zeitgenössische Musik ist in erster Linie einmal unbekannt, neu, komplex, sie verlangt von ihrem Publikum Interesse und Neugierde. Das ist aber heute nicht anders als früher. Nur der Hörprozess ist vielleicht ein anderer. Wir können ja auch das Publikum von heute nicht mit dem aus Mozarts Zeit vergleichen. Früher hatte Musik ja auch einen anderen Stellenwert als heute. Damals gab es kein Kino, kein Internet. Die Musik gehörte zur allgemeinen Bildung. Nach dem 2. Weltkrieg gab es dann aber einen großen Umbruch. Die Rolle der Musik veränderte sich, die Ausdrucksweise auch. Das Verständnis der Menschen, ihre Aufnahmefähigkeit haben sich aber auch parallel dazu verändert. Aber ich mache mir keine Sorgen um die Musik. Zeitgenössische Musik hat es immer gegeben. Sie hat immer Befürworter und immer Gegner gehabt. Und das wird wohl auch immer so sein.
Kann man sagen, wie die Musik der Zukunft sein wird?
Das will ich überhaupt nicht wissen! Das ist für mich in der Gegenwart auch völlig irrelevant. Ich weiβ ja selbst nicht, was und wie mein nächstes Stück sein wird. Ob ich eine Oper schreibe, oder eine Klaviersonate, oder vielleicht etwas für modernste Elektronik. Vielleicht wird übermorgen etwas erfunden, was die Musik revolutioniert. Die Musik, wie alle Kunst, ist in einer permanenten Veränderung und Entwicklung. Und diese Entwicklung ist niemals geradlinig. Beides kann man also nicht vorhersehen. Und man sollte auch nicht versuchen, es zu tun. Wie langweilig wäre es doch, wenn ich schon wüsste, in welche Richtung ich mich weiterentwickle oder wie mein nächstes Stück sich anhört. Wichtig ist einzig und allein zu wissen, dass wir uns alle weiterentwickeln. Wohin und wie, das ist letztendlich das Spannende an der Sache.
Benjamin auf CD (Auswahl)
George Benjamin: At First Light, A Mind of Winter, Ringed by the Flat Horizon; Penelope Walmsley-Clark, Sopran, London Sinfonietta, George Benjamin, BBC Symphony Orchestra, Mark Elder – Nimbus 5075
George Benjamin: Antara; Pierre Boulez: Derive, Memoriale; Jonathan Harvey: Song Offerings; Penelope Walmsley-Clark, Sopran, London Sinfonietta, George Benjamin – Nimbus NI 5167
George Benjamin: Three Inventions, Upon Silence, Sudden Time, Octet; Susan Bickley, Mezzosopran, Fretwork, London Sinfonietta, London Philharmonic Orchestra, George Benjamin – Nimbus 5505
A Mind of Winter, The Music of George Benjamin; BBC Symphony Orchestra, Mark Elder, London Sinfonietta, George Benjamin – Nimbus 5643
George Benjamin: Shadowlines, Viola Viola, Three Studies; Pierre-Laurent Aimard, Klavier, Tabea Zimmermann, Antoine Tamestit, Bratsche, George Benjamin, Klavier Nimbus 5713